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Langeweile weilt stets am längsten

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Die Menschen sind zur Langeweile ungerecht - sie hassen sie völlig unbegründet. Langeweile verlängert nämlich das Leben.

Man kann jeden Zeitabschnitt -sagen wir, einen Tag - kurz- oder langweilig verleben. War er langweilig, dauerte er - wie schon das Wort sagt, länger. Man erreichte also einen Zeitgewinn, zwar nur subjektiv, aber immerhin.

Wenn zum Beispiel ein Theaterstück lang weilig ist, spottet man: „Um Mitternacht habe ich auf die Uhr geschaut - und es war erst neun.” Na und? War man eben für das gleiche Eintrittsgeld drei Stunden länger im

Theater. Zeit ist Geld, es war also ein reiner Gewinn.

Das erinnert mich an die Geschichte mit dem Kiewer Millionär Brod-skij, die lange vor dem Ersten Weltkrieg passierte. Man fragte ihn: „Herr Brodskij, Sie haben doch Geld genug, warum fahren Sie immer mit dem Personenzug und nicht mit dem Schnellzug?” - „Na, bin ich denn meschugge?” antwortete der alte Brodskij. „So zahl ich weniger und fahre länger!”

Ja, ich weiß, alte Geschichten sind langweilig - deshalb aber leben sie so lange. Wie die kaukasischen Schafhirten, deren Leben auch nicht eben kurzweilig verläuft.

Es gibt einen jüdischen Fluch: „Du sollst in interessanten Zeiten leben!”

Denn in einer interessanten Zeit lebt man kurzweilig - und meistens auch kurz.

Viele Leute sagen - ich. habe es auch schon oft gesagt: „Ich habe keine Zeit, mich zu langweilen.” Na - ist das ein Vorteil? Es beweist doch nur, daß, wer sich nicht langweilt, keine Zeit hat. Zeit braucht man aber, sie ist zeitlebens lebenswichtig, sie istja eine Dimension des Lebens. Man sollte sich schon ab und zu Zeit nehmen und sich mindestens eine kurze Weile langweilen. Viele Menschen haben dieses Bedürfnis erkannt. Sie scheuen keine Mühe und keine Kosten, fahren irgendwohin auf das andere Ende der Welt, um sich da schön zu langweilen - mit der eigenen Familie oder mit wildfremden Menschen. Vor allem aber mit sich selbst.

Langeweile ist nämlich eine Weile, in der man nur mit sich selbst verweilt und nach einer kurzen Weile feststellt, daß man sich mit sich selbst langweilt, weil man sich nichts Neues zu sagen hat. Und es ist egal, ob man dabei tatsächlich allein ist oder unter

Menschen, die uns etwas darbieten, was uns nicht interessiert. Wer der Langeweile entfliehen will, muß keine Menschen oder Attraktionen aufsuchen. Es reicht, wenn man weggeht und sich selbst zu Hause läßt.

Man soll aber nicht immer weglaufen, man soll sich ab und zu langweilen. Wann hat man denn sonst Gelegenheit, sich mit sich selbst zu beschäftigen, mit dem Menschen, den man am meisten liebt, auch wenn er langweilig ist?

Man muß der Gesellschaft zugestehen, daß sie an die wichtigsten Bedürfnisse ihrer Mitglieder denkt. Unzählige Menschen sind damit beschäftigt, Langeweile für andere zu produzieren: Redner, Urlaubsmanager, Ehepartner, Buch- und Fernsehautoren, Behörden, Verwandte, Chefs - es wäre langweilig, alle aufzuzählen.

Sollte diese Überlegung die Leser langweilen, muß ich ein höheres Honorar verlangen - denn ich habe den Lesern somit geholfen, zu sich selbst zu finden.

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