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Langsamer Wertewandel

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Im Jahre 1979 schrieb Ralf Dahrendorf vom „Ende des sozialdemokratischen Konsensus”. Er meinte damit nicht ein eng definiertes parteipolitisches Dogma, sondern Haltungen, über die weitgehende Einigkeit herrschte: „In der Wirtschaftspolitik zweifelt diese Haltung nicht an der Notwendigkeit des Wachstums durch Steigerung der Produktivität…. Gesellschaftspolitisch steht im Vordergrund ein Motiv der

Gleichheit Politisch nehmen diese Sozialdemokraten die demokratischen Institutionen als Instrument der Veränderung hin Im Bereich der Werte, der

Kultur im weiten Sinn schließlich, sind diese Sozialdemokraten die Hauptbefürworter der Rationalität …, von der Buchhaltung über die Bürokratie zu Wissenschaft und Technik” (R. Dahrendorf: „Lebenschancen”, 1979).

Das Ende dieses Wertekonsensus zeichne sich ab, weil er sein Programm weitgehend erfüllt habe und seine eigenen Widersprüche hervorbringt, mit denen er „nur mühsam oder gar nicht fertig wird.”

Die Angriffe auf die unerwünschten Nebenwirkungen, auf die sozialen Grenzen des Wachstums, auf die freiheitsbedrohenden Aspekte eines falschen Egalitarismus, auf die Erstarrung der staatlichen Bürokratien zu einem „Gehäuse der Hörigkeit” (Max Weber) und auf den Mythos der allein seligmachenden Rationalität, der irrationale Wurzeln hat, werden mit der Beschwörung zurückgewiesen, „daß es uns noch nie so gut gegangen ist”.

Von vielen Menschen wird die Ankündigung eines „Wertwandels” als Bedrohung gesehen. Seine Träger („Postmaterialisten”, „Grüne”, etc.) stempelt man gerne zu Systemgegnern, schmarotzerischen Aussteigern oder stilisiert sie zu Verfechtern „alternativer

Lebensformen” hoch (was sie gelegentlich auch selbst tun).

Vielfach wird bei solchen Analysen unterstellt, daß die Stabilität der politischen und gesellschaftlichen Entwicklung nur dann gewährleistet sei, wenn es einen einheitlichen Wertekanon gibt, der von allen Mitgliedern einer Gesellschaft geteilt wird.

Wertkonflikte werden als Vorzeichen von Glaubenskriegen interpretiert, die eine Umwertung aller bestehenden Werte zur Folge haben können. In simpler Manier wird geschlossen, daß eine Absage an den Fortschritt bisheriger Art nur den Rückschritt zum Ziel haben könne.

Einen einheitlichen Satz vpn verbindlichen Werten gibt es aber seit Jahrhunderten nicht mehr. Vielleicht ist es überhaupt nur die Sicht auf eine ferne Vergangenheit, gepaart mit hegelianischem Geschichtsdenken, die es einem ermöglicht, alle Lebensäußerungen einer Gesellschaft aus einem Zeitgeist und Wertekanon zu deuten.

Bevölkerungsgruppen mit religiösen Werthaltungen leben neben und mit solchen ohne erkennbare Zeichen von Religiosität. Und innerhalb moderner Gesellschaften besteht eine zunehmende Möglichkeit, sich auch die kulturellen Werte anderer Lebensund Glaubensformen anzueignen, was der Religionssoziologe Peter Berger mit dem „Zwang zur Häresie” umschrieben hat. Asketische, kontemplative und meditative Lebenshaltungen waren (und das nicht nur innerhalb der Kirchen) stets ein Gegengewicht zu einer weltbeherrschenden und weltverwaltenden Lebensweise.

Es ist nur allzu verständlich, daß nach einer Phase starker materieller Wohlstandsorientierung manchen Menschen die alte Wahrheit dämmert, der Mensch lebe nicht vom Brot allein. (Was noch nicht die Forderung einschließt, daß er gefälligst ohne Brot auskommen möge).

Sogenannte postmaterielle

Werthaltungen (Forderungen nach Bedachtnahme auf Umwelt, ja auf so „nebulöse” Werte wie

Schönheit) stellen häufig Zusatzforderungen dar. Sie entstehen auf der Basis eines materiellen Wohlstands, dessen uneingeschränkte Fortschreibung gefährlich erscheint.

Wenn einmal der Punkt erreicht wird, wo der Konsumakt nicht seiner selbst wegen, sondern aus volkswirtschaftlicher Raison „wertvoll” ist (damit die Arbeitsplätze gesichert bleiben), wird aus Wohlstand Plage. Systemstabilisierendem Verhalten wird dann der Vorrang vor individuellen Präferenzen zugebilligt - zumindest von jenen, die das auf- und ausgebaute System für das Bestmögliche halten.

Die Werthaltungen der Menschen halten sich freilich nicht an theoretische Vorschriften — so wenig wie die Umwertung der Werte durch den Willensakt einzelner geleitet werden kann.

„Dem Wohlstand wird’1980 weniger Gewicht beigemessen als noch 1970” (Paul Zulehner „Religion im Leben der Österreicher”, Herder, 1981): dies zum Teil wohl deshalb, weil man ihn „selbstverständlich” besitzt; zum Teil aber auch, weil man die negativen Konsequenzen eines rein materiellen Wachstums erkennt oder zumindest erahnt.

Leben mit Wertkonflikten

Der Wertkonflikt geht nicht nur quer durch die Bevölkerung — er geht häufig auch quer durch die eigene Brust: etwa in Form der Erkenntnis, daß Geldzuwachs nicht alles ist, wenn die Zeit zu knapp wird; oder in Form der Einsicht, daß man mit dem (Autofah- rer-)Wunsch nach einer autogerechten Stadt die Fußgängerwelt zerstört oder an die Peripherie drängt.

Erst wenn viele Menschen aus ihren Konflikten die Konsequenzen ziehen und ihre (Konsum-) Präferenzen allmählich ändern, wird aus abstraktem Wertwandel eine gewandelte Wirklichkeit.

Der Autor ist Geschäftsführer des Dr. Fessl- und GfK-Instituts in Wien. Weitere Beiträge aus dieser Serie erschienen in FURCHE 42/82, 49/82 und 3/83

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