7042242-1990_21_03.jpg
Digital In Arbeit

Langsames Wunder

19451960198020002020

Atemberaubender als die Entwicklung in den einsti- gen sozialistischen Staaten Europas ist die stille Umkehr im bisher dogmatischen, noch dem „Freund Stalin" huldigenden Albanien.

19451960198020002020

Atemberaubender als die Entwicklung in den einsti- gen sozialistischen Staaten Europas ist die stille Umkehr im bisher dogmatischen, noch dem „Freund Stalin" huldigenden Albanien.

Werbung
Werbung
Werbung

Ganz offensichtlich ist hier nicht in erster Linie die Bevölkerung oder die Parteibasis Initiator einer radi- kalen Änderung der innen- und au- ßen- und wirtschaftspolitischen Richtlinien - sondern die Spitzen von Partei und Staat. Aber auch die hat nicht Reformwille beflügelt, vielmehr sind es die primären Über- lebensinteressen eines kleinen Bal- kanstaates angesichts der neuen Realitäten in der Weltpolitik, die den Pragmatismus auf den Plan gerufen haben.

Daß diese Kehrtwende sehr ernst gemeint ist, daß sie nicht von heute auf morgen realisiert werden kann, liegt auf der Hand und in der Natur der Dinge.

Erstens dauert jede Änderung in Albanien besonders lange; hatte doch noch Enver Hodscha (er starb 1985) grünes Licht gegeben für Verhandlungen über die Wieder- aufnahme diplomatischer Bezie- hungen sowohl mit der Bundesre- publik Deutschland als auch mit Großbritannien. Ein Botschafter aus Bonn konnte jedoch erst vor etwa zwei Jahren nach Tirana ent- sandt werden, und die diplomati- schen Verhandlungen zwischen London und Tirana laufen erst jetzt wirklich auf Hochtouren.

Zweitens herrscht ebenfalls seit Jahren in albanischen politischen und Wirtschaftskreisen die Über- zeugung, daß auf ausländische Kredite und Investitionen nicht verzichtet werden könne, wenn der gewünschte und notwendige Fort- schritt in Albanien verwirklicht werden soll - aber erst jetzt ist der Durchbruch in Richtung einer Ankündigung entsprechender Ver- fassungsänderungen und neuer Gesetze gelungen.

Wenn jetzt jeder Bürger die Möglichkeit haben soll, einen Rei- sepaß zu erhalten, dann ist das zwar sehr fortschrittlich, wirft aber die Frage auf: Was fängt der Durch- schnittsalbaner mit diesem Reise- paß an? Er hat in den wenigsten Fällen Kontakte im Ausland, und in noch weniger Fällen wird er über die unentbehrlichen Devisen ver- fügen. Dazu kommt, daß es ledig- lich Flugverbindungen ins Ausland gibt, abgesehen von einigen klei- nen Grenzübergängen an der grie- chisch-albanischen Grenze. Eine Bahnverbindung über Jugoslawien in den Westen wurde zwar vor ein paar Jahren eröffnet, bald aber wieder eingestellt. Ein Trajekt von Dürres nach Triest/Italien ist bis- her nur dem Güterverkehr zugäng- lich.

Die Ankündigung, ein Justizmi- nisterium wieder aufzubauen, be- deutet den Albanern sicherlich sehr wenig. Als es 1965 geschlossen worden war, hatte ihnen niemand erklärt, warum, die junge Genera- tion weiß also nicht, was es ist und soll. Bisher hatte ein „Büro für Rechtsberatung" den Bürgern Auskünfte erteilt. Ein Angeklagter vor Gericht hatte keinen Verteidi- ger, Juristen (ein solches Studium gibt es nach wie vor) wurden Rich- ter oder Staatsanwälte. Am kom- pliziertesten dürfte das neue Be- kenntnis zur KSZE-Akte über Menschenrechte werden. In Alba- nien dürfte kaum jemand wissen, worum es dabei geht. Seit Jahr- zehnten wurde der Bevölkerung eingetrichtert, daß sie im einzig wahren Paradies des Sozialismus lebe. In den einstigen Bruderlän- dern sei der Sozialismus von „La- kaien des Kapitalismus" verraten worden. In den kapitalistischen Staaten wiederum gäbe es nichts als Probleme - Drogen, Terroris- mus, verderbliches Konsum-Den- ken, vor allem die Arbeitslosigkeit - in denen dieses todgeweihte Sy- stem dahinsieche.

Dank der „gütigen und weisen" Partei, personifiziert in der Vater- figur des Enver Hodscha (auch noch nach seinem Tod, erst in jüngster Zeit mehren sich die Anzeichen einer Änderung) aber lebt der Al- baner in einer gesunden, unverdor- benen Gesellschaft, deren oberstes Gebot ein geradezu fanatisierter Patriotismus ist.

Auch die Erlaubnis, Religion ausüben zu dürfen, ist im heutigen Albanien nicht die Erfüllung eines primären Bedürfnisses. Das Durch- schnittsalter in diesem Land be- trägt 27 Jahre - das heißt, daß die überwiegende Mehrheit der Bevöl- kerung heute von Religion über- haupt nichts weiß. Und die ältere Generation von Priestern und Hodschas ist zweifellos so schwer bedrängt und mißhandelt worden, daß sie nicht in der Lage sein kann, eine neuerliche, zeitentsprechende Tätigkeit mit eigener Kraft ins Leben zu rufen.

Mit anderen Worten: Der Alba- ner heute muß sich, angesichts der neuen Politik von oben, unweiger- lich die Fragen stellen: Waren un- sere bisherigen Führer Lügner und Betrüger, oder sind sie jetzt selbst „Lakaien des Kapitalismus", die uns mit einer uns fremden Welt konfrontieren wollen? Werden die jungen Albaner nicht als Folge dieser Fragen die durchwegs „al- ten" Männer und Frauen der Füh- rung wegfegen und stattdessen selbst, ihre Zukunft in die Hand nehmen wollen?

Eine andere zusätzliche Frage stellt sich in diesem Zusammen- hang ein: Wird ein modernes Alba- nien für die von den Serben unter- drückte albanische Bevölkerung im Kosovo eine Alternative sein?

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung