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Digital In Arbeit

„Langweilig, ich weiß gar nicht, was das ist"

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„Tante Helene", sag ich, „war dein Leben nicht langweilig?"

Sie sieht mich erstaunt an. „Langweilig? Wie kommst du darauf?"

„Naja", sage ich, „Kirche, Kinder, Küche, kaum verreist, immer am gleichen Ort..."

„Viel Arbeit", sagt sie, „vergiß nicht, mein Mann ist gestorben, als ich 40 Jahre alt war. Von diesem Tag an war ich keine Frau mehr. Nur noch Mutter für die Kinder. Und wenn du meinst, daß ich nicht herumgekommen wäre in der Welt - das siehst du falsch. Schau sie doch an, die Leute. Wie wird denn heute verreist? Hinz & Kunz sind unterwegs nach Indien, China, Ägypten, was weiß ich. Was haben sie gesehen? Alles und nichts. Ich kenne das Allgäu wie meine Schürzentasche. Was ich gesehen habe, habe ich gesehen. Die Löwenzahnwiesen im Frühjahr, das gibt's nirgendwo so wie bei uns. Der Herbst, blau und gold. Die Moore, die Weiher. Es gibt keinen, in dem ich nicht geschwommen wäre."

Ich erinnere mich, daß sie noch mit 85 Jahren in das Hallenbad der kleinen Stadt ging. Dann nicht mehr. „Man wird ein bissei schiach mit den Jahren." Das ist zehn Jahre her.

„Du warst immer etwas kühl, Tante

Helene", sag ich.

„Kühl?" Sie lächelt. „Mit wem hätte ich denn Zärtlichkeiten tauschen sollen? Die Kinder waren schnell erwachsen und aus dem Haus. Man hat' s bei uns auch nicht so mit den Gefühlen - wenigstens nicht nach außen."

„Du bist so dünn geworden, Tante Helene", sage ich hilflos, „nur noch Haut und Knochen." Sie setzt sich kerzengerade auf. „Stimmt. Weißt du, zu viel Fleisch, das ist lästiger Ballast. Ein bissei Haut und Knochen - da geht sich's leichter."

Wie meint sie das? Hier, für die Erde, oder dort, wohin wir alle hingehen werden?

„Außerdem", sagt sie, „hab ich nicht immer so ausgesehen wie ein altes Indianerweib mit Runzelhaut. Warte." Sie holt ein Album, schlägt es auf, zeigt auf das Bild eines Mädchens. „Hier. Da war ich 20 Jahre alt."

Ich starre das Bild an. Eine Schönheit, hoch gewachsen, eine Taille, mit zwei Händen zu umspannen, blondes Haar, ein Gesicht wie von einem Gemmenschneider gefertigt, zugleich samtweich. Gab es nicht früher ein Wort dafür? Hieß es nicht Liebreiz?

„Gell, da schaust?" Sie läßt das Album offen liegen, „das ist 75 Jahre her. Es ist wie eben." Ich sehe sie an, sehe auf das Bild. Sie schüttelt den Kopf: „Langweilig, ich weiß garnicht, was das ist. Wenn ich nur an den großen Garten denke." Ein Stichwort.

„Ich bin dir heut noch für etwas dankbar. Weißt du wofür?" „Für den Rittersporn? A geh" „Doch", sage ich, „das vergesse ich nicht. Wenn ich daran denke, freue ich mich. Du mußt dir vorstellen: sechs Nächte auf der Flucht aus einer brennenden Stadt, Ankunft in einem unzerstörten Marktflecken. Wiesen, Berge, Wälder, Bauernhäuser, Kühe, Gärten. An einem blieb ich stehen: Rittersporn, mannshoch, dicht, tiefblau, lichtblau, weiß, Blüte an Blüte. Du standest hinter dem Zaun. Nach einer Weile fragtest du: ,Mögen's ein paar?' Ich nickte. Ein paar... einen ganzen Armvoll hast du mir über den Zaun gegeben. Mir fiel etwas ein. ,J£s geht nicht", sagte ich. „Was?" „Ich habe nichts zum Hineinstellen, keine Vasen, keine Gläser." Damals hauste ich in einer Kellerwohnung und war ärmer als eine Kirchenmaus, denn die hat immerhin die Kirche. „Warten Sie..." du bist verschwunden und mit drei Zweiliter-Einmachgläsern wiedergekommen. Können Sie alles tragen? Ich konnte. Wenig später sah mein Keller aus wie der Gärten Eden. „Wann war das?" frage ich. „Anfang Juni 1945", sagt sie, ohne zu zögern. „Du hast ein gutes

Gedächtnis." Sie lächelt.

„Weißt du noch, wie du im Advent mal bei mir hereingeschneit bist?" „Ja, da waren wir schon ein bissei verwandt." „Ein bissei..." sie lacht. „Es lag tiefer Schnee. Ich war damals ziemlich schlecht beisammen. Müde und kraftlos. Als ich an deinem Haus vorbeikam, duftete es nach Zimt, Nelken und Anis. Du warst gar nicht überrascht, als ich plötzlich vor der Tür stand. ,Komm schnell', hast du gesagt, ,ich hab gerad' ein Blech im Rohr. Die zwölfte Sorte, Springerle.' Ich durfte kosten, alle zwölf Sorten, eine immer besser als die andere: Nußstangen und Bärentatzen, Himbeer-laible und Baseler Leckerli, Butter-und Anislaible, Springerle, Kokosma-kronen, Vanillebrezeln, Lebkuchenherzen, Zimtsterne und Mocken. Du hast mir eine große Tüte voll mitgegeben: , Versucherle...'"

Sie sagt: „Du hast auch ein gutes Gedächtnis." Ich sage: „Du warst sehr tröstlich damals, Tante Helene." Sie hat es überhört. „Bist du denn mit dem heutigen Tag zufrieden, Tante Helene?" frage ich. Sie nickt. „Die vielen schönen Blumen." „Auch mit dem Pfarrer?" „Oh ja. Das heißt, das mit der heiligen Helena war wohl etwas zu hoch gegriffen. Aber sonst hatte alles

Hand und Fuß. Er hat sich Zeit genommen. Das mag ich. Zu meinem 95. Geburtstag am 25. Dezember hat er mich besucht. Wir haben Kaffee getrunken. Er ist ein umgänglicher Herr." „Hat dir auch der Spruch gefallen?" „Der vom Papst Johannes XXIII.? Ja, der stimmt. Hast du ihn dir gemerkt?"

Ich zitiere: „Jeder Tag ist gut, um geboren zu werden. Jeder Tag ist gut, um zu sterben." Sie nickt.

Tante Helene", sag ich, „du bist mir um einen Schritt voraus. Wenn das mit dem Ofen nicht passiert wäre, wenn dein Haar nicht Feuer gefangen hätte..." „Wenn, wenn, wenn", unterbricht sie mich ungeduldig, „es ist passiert." Ich frage: „War es ein guter Tag, um zu sterben?" „Ein guter Tag", sagt sie. Ihre Stimme klingt freudig. „Tante Helene", sag ich, „wir haben im Garten auf der Südseite die Disteln und Schafgarbe, die du uns geschenkt hast. Sie blühen jetzt blau und gelb. Das sieht sehr schön aus." Sie sagt: „Ich weiß. Ich freue mich, wenn's euch freut." Meine Hilflosigkeit wächst. „Tante Helene", sag ich, „ich glaube, ich habe dich nie ganz richtig kennengelernt." Sie hebt die Hände, als wollte sie sagen: wer hat das schon? „Tante Helene", sag ich, „ist jetzt nicht alles ganz anders? Jetzt, wo du..."

Ich höre sie lachen. Es klingt weiter entfernt.

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