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Latein: Darfs ein bisserl weniger sein?

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Am scheinbaren Ende der Diskussion, die in den letzten Wochen um das Latein an den Gymnasien geführt wurde, steht in gewisser Weise ihr Anfang. Erst zuletzt sind die Fragen klar zutage getreten, um die es geht. Die AZ hat in desillusionierender Kompromißbereitschaft erklärt: niemand denke daran, Latein „abzuschaffen“, nur für die alte Forderung der Kinderfreunde, es nicht mehr an der Unterstufe zu lehren, müsse man Verständnis aufbringen (.natürlich in Richtung auf die Gesamtschule'). Die eine konkrete Sachfrage lautet also: genügt es, wenn Latein an den Gymnasien nur mehr an der Oberstufe angeboten wird?

Es ist unschwer vorauszusehen, daß sich die radikalen Lateingegner mit dem nächsten .Kompromißvorschlag' zu Wort melden werden, man solle doch die Auseinandersetzung mit der Antike, die die Befürworter des altsprachlichen Unterrichts zu Recht reklamieren, in eine Art kulturkundlichen Unterricht verlegen, der auf die Originalsprachen verzichte. Die zweite Sachfrage lautet demnach: gibt es fachspezifische Bildungswerte, die nur durch den Unterricht in den alten Sprachen vermittelt werden können?

Im Lateinunterricht geht es immer um Texte und deren Inhalte, und Texte wollen zunächst verstanden, dann interpretiert, schließlich beurteilt werden. Lese ich den Satz: Cui sapiunt omniä prout sunt, hic est vere sapiens, so frage ich zunächst: Was heißt das?

Die erste Aufgabe im Lateinunterricht ist immer das einfache Verstehen, per übersetzende Schüler braucht d'azüGrämmatik- und Vokabelkenntnisse, die in einem etwa zweijährigen Anfangsunterricht grundgelegt werden. Damit kommt er auf: „Wem alle Dinge schmecken, je nachdem sie sind, der ist wahrhaft weise.“ Das befriedigt offenbar noch nicht, und zur bloßen Sprachkenntnis muß auch die Fähigkeit zum schöpferischen Kombinieren gegebener semantischer Inhalte treten, damit die Ubersetzung erreicht wird

„Wer alle Dinge je nach ihrem Wesen auffaßt, der hat die Auffassungsgabe des wahren Weisen.“

Man soll den fachspezifischen Bildungswert der Grammatik gewiß nicht unterschätzen. In Neger- und Puertoricanervierteln von Washington machten Elfjährige bei einem Jahr Latein größere Lesefortschritte im Englischen als bei mehreren Jahren Französischunterricht. Warum sollte die lateinische Grammatik also nicht auch in Österreich Schülern den Ubergang vom Dialekt zur Hochsprache erleichtern, und zwar auch jenen, die ein Gymnasium nach der vierten Klasse verlassen?

Aber noch wichtiger als die vielberedete „Logik“ der Grammatik ist doch das andere: daß im Gegensatz zur vorwiegend abstrahierenden, analysierenden und formal verknüpfenden Denkweise der Mathematik der Lateinunterricht die Fähigkeit zum synthetischen Denken, zum Zusammenfügen aller Inhaltselemente eines Textes zu einem sinnvollen Ganzen fördert.

Die zweite Aufgabe, das Interpretieren, stellt sich der Frage: Was will mir der Autor sagen, und warum sagt er es so? (Wieder geht es um einen formalen und einen inhaltlichen Aspekt.) Der anonyme Autor unseres Beispielsatzes will offenbar betonen, daß die Welt und der Erkennende im Erkenntnisvorgang eng verbundene und gleichberechtigte Partner sind: beide treten im Originaltext als Subjekt auf, und das Wortspiel sapiunt-sapiens verbindet sie zusätzlich.

Wir sehen, wie eindringlich der erkenntnistheoretische Realismus in dem Originalsatz (und nur in ihm!) formuliert ist, und diese Eindringlichkeit hat Appellcharakter: jeder gut durchgestaltete Originaltext regt aus sich heraus zur Auseinandersetzung mit ihm an, das heißt zur dritten Aufgabe des Beurteilens und Stellungnehmens.

Was ist nun das Spezifikum des altsprachlichen Interpretierens? Die muttersprachliche Interpretation geht, da sie ja keine Sprachbarriere zu überwinden hat (die auch in mo-

dernen Fremdsprachen niedriger wäre), in der Regel vom Gesamteindruck ins Detail, die altsprachliche setzt in umgekehrter Richtung bei möglichst genauer Beobachtung der Einzelheiten an, in langsamer und geduldiger Lektüre: zwei Haltungen, die einander ideal ergänzen.

So wird das Studium aller Kulturbereiche, in denen Texte ausgelegt werden - Theologie, Rechtswissenschaft und Geisteswissenschaften -in der Vorschule des altsprachlichen Interpretierens vorbereitet, und zwar nicht nur im Einüben formaler Auslegungsprozeduren: jeder Interpret wird auch umso exakter arbeiten, je mehr er sich der historischen Bedingtheit jener Begriffe bewußt ist, die er selber mitbringt, wenn er einem Text gegenübertritt.

Damit sind wir auch beim inhaltlichen Aspekt, beim Thema der Kulturtradition, in die der Gymnasiast eintritt. Der junge Mensch hat an ihnen lebendige Gesprächspartner; und je tiefer er sich von ihnen in das europäische Erbe einführen läßt (aus

dessen Internationalismus wir anscheinend in den Provinzialismus fallen wollen), umso urteilsfähiger und mündiger wird er den Schlagworten seiner Gegenwart gegenüberstehen.

Also Ja zum Originallatein - aber warum schon in der Unterstufe? Weil man, wenn man die angebotenen Bildungswerte einem Teil der Schuljugend voll zugänglich machen will, genügend Zeit zu ihrer Realisierung gewähren muß. Zeit, um Schüler von

der Stufe des Textverstehens auf die des Interpretierens hinaufzuführen; Zeit, um sie mit der Fülle der Tradition bekanntzumachen (Autoren wie Horaz, Tacitus und Augustinus fänden im Oberstufenlatein gar keinen Platz); Zeit schließlich auch dafür, daß ein noch geringerer Teil unserer Jugend die Chance behalten kann, im anschließenden Griechischunterricht die Kenntnis der römischen Tradition zu ergänzen

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