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Lateinamerika vor der Spaltung

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Auf der Vopderbühne der lateinamerikanischen Szene treten die Terroristen auf mit ihren Morden, Entführungen, Brandstiftungen, Bombenattentaten, Überfällen und Bankrauben. Die Intensität ihrer Revolutionspredigt und das Spektakuläre ihrer Aktionen verleiten zu dem Irrtum, daß die Alternative auf kurze Sicht nur zwischen der bisherigen „Ordnung“ und revolutionärem Chaos, auf längere Sicht nur zwischen der heutigen Situation in Brasilien und der in Kuba zu wählen sei. Nun zeigt gerade die Spaltung der lateinamerikanischen Länder auf der kürzlichen OAS-Konferenz, wie unrichtig eine solche These ist.

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Auf der Vopderbühne der lateinamerikanischen Szene treten die Terroristen auf mit ihren Morden, Entführungen, Brandstiftungen, Bombenattentaten, Überfällen und Bankrauben. Die Intensität ihrer Revolutionspredigt und das Spektakuläre ihrer Aktionen verleiten zu dem Irrtum, daß die Alternative auf kurze Sicht nur zwischen der bisherigen „Ordnung“ und revolutionärem Chaos, auf längere Sicht nur zwischen der heutigen Situation in Brasilien und der in Kuba zu wählen sei. Nun zeigt gerade die Spaltung der lateinamerikanischen Länder auf der kürzlichen OAS-Konferenz, wie unrichtig eine solche These ist.

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Nach den äußeren Gegebenheiten entstand das Schisma aus der Verschiedenheit der Kriterien, betreffend die Ächtung der Guerillas. Aber die Frage, ob bei allen Terrorakten oder nur bei der Entführung von Diplomaten und ähnlichen international privilagierten Persönlichkeiten das Asylrecht außer Kraft gesetzt werden soll, ist keine so grundlegende Frage, daß sich aus ihr allein das Verhalten der Minderheit erklärt. Es widerspricht den Grundprinzipien der interamerikanischen Organisation, daß Staaten, die sich einem Mehrheitsbeschluß widersetzen, die Tagung verlassen, ganz besonders, da unter ihnen die beiden größten lateinamerikanischen Länder, Brasilien und Argentinien, zu finden waren, die sonst fast immer als Gegenspieler im panamerikanischen Konzert auftraten.

Sie haben ihre Haltung damit erklärt, daß der abgeschwächte Beschluß, der die Mehrheit fand, eine wirksame Bekämpfung des Terrorismus vereitle. Aber auch nach ihrer „harten Linie“ stand es im Ermessen jeder Regierung, im Einzelfall von der Regel abzuweichen.

Obwohl alle lateinamerikanischen Regierungen es ablehnen, den Totenschein für die OAS auszustellen, ist das Verlassen der Konferenz ein deutliches Symbol für eine tiefgreifende Spaltung zwischen den lateinamerikanischen Ländern. Sie bezieht sich keinesfalls mehr — wie noch vor einigen Jahren — auf die verschie-

denartige Staatsform (Diktatur oder Demokratie), sondern folgt daraus, daß ein Teil der lateinamerikanischen Länder zu einer Änderung der veralteten und eingefrorenen politischen und wirtschaftlichen Strukturen schreitet, an denen der andere Teil noch starr festhält.

Dr. med. Salvador Allende versucht im Rahmen der chilenischen Demo-

kratie, die Generäle Velasco Alvarado in Peru und Juan José Torres in Bolivien trachten innerhalb ihrer Militärdiktaturen, die aus der Kolonialzeit ererbten politischen und wirtschaftlichen Fesseln zu durchschneiden. Die Reform auf dem Agrar-, Steuer- und Verwaltungssektor, die Verstaatlichung der Rohstoffproduktion, der Großindustrie und des Bankwesens sind vorläufig Experimente, deren Ergebnis abzuwarten bleibt: Aber in jedem Fall bemüheti sie sich, den alarmierenden Abgrund zwischen Reich und Arm ebenso zu überbrücken, wie sie die von allen Ländern der Zone beklagte Abhängigkeit von internationalen Monopolen, im Ausland festgesetzten Preisen und willkürlich geöffneten oder geschlossenen Absatzmärkten überwinden wollen.

Damit widerlegen sie die Behauptung der Guerülas, daß eine grundlegende Veränderung der lateinamerikanischen Strukturen nur auf dem Wege der Gewalt möglich sei. Sie entziehen ihnen in solchem Maß die Argumente, daß Chile, Peru und Bolivien die prominentesten Guerillaführer in demselben Augenblick begnadigen konnten, in dem Brasilien, Argentinien und Uruguay die Bekämpfung der städtischen Guerillas verschärfen mußten. Dabei arbeiten die Guerillas ohne jeden Kontakt mit dem Volk, während die Massen in Chile, Bolivien und Peru eindeutig die sie begünstigenden Reformen unterstützen.

Es ist klar, daß der von Brasilien geführte Block nicht nur beunruhigt ist, sondern auch der „Ansteckungsgefahr“ verbeugen will. Aber die geringe „Interdependence“ zwischen den lateinamerikanischen Nachbarstaaten gehört zu den Rätseln dieses Kontinents, die Errichtung der Diktatur in einem Lande hat selten direkt im Nachbarland Nachahmung gefunden.

Das brailianische Regime des Präsidenten Garrastazu Medici und das argentinische von General Roberto Levingston kommen jedoch gleichzeitig zu der Erkenntnis, daß ihre Militärregierungen- in einen Matchvakuum agieren, wobei die wirtschäftliche Entwicklung in Brasilien ungleich günstiger ist als in Argentinien. Beide suchen einen Riickwea zu demokratischen Formen und weichen in wachsendem Maße von der konservativen Stabilisierungspolitik des Weltwährungsfonds ab, auf Grund derer sie durch das teilweise Einfrieren der Löhne das Lebenshaltungsniveau ihrer Massen in so alarmierendem Grade gesenkt haben. Eine ähnliche Entwicklung bahnt sich in Uruguay an, wo sich der umstrittene Präsident Jorge Pacheco Areco zu Neuwahlen im November stellt. Der Ausmarsch der „Großen“ aus der OAS ist so nur ein Symptom für die Spaltung Lateinamerikas in verschiedene Blöcke, eine Entwicklung, deren wirtschaftliche und weltpolitische Folgen noch nicht zu übersehen sind.

Dabei beweisen Allendes Erklärungen, daß die Enteignung der Kupferminen in Chile keineswegs gegen die USA gerichtet ist, und die Kreditangebote nordamerikanischer Banken an Chile, daß alle Gruppen bestrebt sind, Spannungen von der Art zu vermeiden, die in Rotchina, Ägypten und Kuba zu tragischen Konflikten mit Washington führte.

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