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Leben im Traum

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Wie im Traum ist das Leben vor­beigegangen und wie im Traum hat es in ihm Bösewichte gegeben und gute Geister, aber sie sind nur als erschrek- kende oder tröstliche Bilder erschie­nen, die dem Träumenden nichts an­haben konnten, außer das eine, daß sie seine Speie peinigten oder beglück­ten, mit dem Ergebnis, ihn am ande­ren Tag, nach dem Erwachen, wäh­rend seiner Beschäftigung mit wirkli­chen Dingen weiter zu begleiten als Erinnerungen an eine andere Welt. Allerdings war es mit ihm so weit nicht gekommen, er wartete vergeb­lich darauf, an einem Morgen - wie es auch im Falle der geträumten Tages­anbrüche gewöhnlich geschah - zu er­wachen und nun die bösen oder guten Geister in ihrer Wirklichkeit, in ihrer durch die Traumperspektive nicht verzerrten Form vor die Augen und zu fassen zu bekommen.

Er gab die Hoffnung an das Her­annahen dieses wachen Zustandes nicht auf, schlug sich aber bis dahin, da er seinem Dasein und seinem We­sen nichts schuldig bleiben wollte, mit seinen Traumgestalten herum, da sie ihn, wenn auch nur aus der Distanz ihrer Körperlosigkeit, als Spiegelun­gen seiner eigenen bösen und guten Regungen, bedrängten, und da er das Austragen solcher Konflikte und Zärtlichkeiten als vorbereitende Übungen für das auf ihn noch warten­de Treiben seines zukünftigen wirkli­chen Lebens ansah.

Er kam allerdings mit der Zeit zur Überzeugung, daß es immerhin mög­lich war, daß er alles das, was er als Traum sah, wirklich erlebte, und daß er sich gezwungen fühlte, sich als ei­nen Träumenden vorzustellen, um da­durch dem wirklichen Schmerz, dem ihn wirkliche Menschen hätten zufü­gen können - und auch dem wirkli­chen Glück, das sie für ihn bereithiel­ten - zu entgehen und die Verantwor­tung, die er auf sich nahm, indem er sich dem einen preisgab und dem an­deren verschloß, nicht zu tragen.

Diese Verantwortung war ihm in ihren Auswirkungen derart klar und überderart weite räumliche und zeitli­che Ausdehnung bewußt, daß er an­nehmen mußte, doch kein wirklich Lebender, sondern - wie er’s vermutet hatte - ein Träumer zu sein, denn in der Wirklichkeit mußten die Beweg­gründe und die Leidenschaften des

Augenblicks - wie er meinte - die Sicht auf die guten oder bösen und in ihren weiteren Verkettungen nicht mehr qualizifierbaren Folgen verne­beln, ihm aber standen sie klar vor Augen.

Er sah, zum Beispiel, sein Allein­sein als ein Versäumnis all denen ge­genüber, die seinen Beistand ge­braucht hätten und zugleich als eine bescheidene Wohltat in bezug auf je­ne anderen, in deren Kreise er als eine Störung eingedrungen wäre; er konn­te das Gefühl nicht loswerden, daß selbst seine beiläufig dahingesagten, unüberlegten Bemerkungen von ei­nem anderen in einem nicht vorher­sehbaren Zusammenhang und mit ir­gendwelchen unausdenkbaren Konse-- quenzen hätten aufgegriffen werden können; er begriff mit erschrecken­dem Staunen, daß er, sobald er sich verlieben und ein Kind zeugen würde, einer ganzen Generationsreihe zum Leben verhelfen könnte, einer sich weiter vermehrenden Menschenmen­ge, die - wie die Masse der zuckenden Leiber auf einer Abbildung des Jüng­sten Gerichts-dem ewigen Leben des Todes entgegenstürzte; er sah sich mit einem Wort als Teil eines größeren, ei­nes endlosen Ganzen, und dieser An­blick konnte kein Ergebnis der wirkli­chen Beobachtung sein, sondern nur etwas Geträumtes.

Ein weiterer Beweis dafür, daß er sein Leben nur träumte, lag in der Wirkungslosigkeit oder in der unvor­hersehbaren, kontroversiellen und mitunter geradezu grotesken Wirkung seiner Handlungen.

Wenn er zuzupacken glaubte, griff er ins Leere, wenn er mit Einbildun­gen spielte, erwiesen sich seine ver­meintlichen Hirngespinste als Gestal­ten aus Fleisch und Blut, wenn er sich allein wähnte, war er in Gesellschaft, wenn er die beschützende Wärme der Menschenmenge suchte, fühlte er sich allein, und wenn er die Notwendigkeit spürte, sich zum Kampf zu stellen, blieb er von seinen Gegnern unbehel­ligt, und diese selbst hatten sich in Luft aufgelöst und machten sich wenn überhaupt, nur durch ein fernes spöt­tisches Lachen bemerkbar. Was statt­

fand, fand nicht statt. Was nicht ge­schehen konnte, geschah.

Er dachte zuweilen, daß er vielleicht eine geträumte Figur war, die Figur im Traum eines anderen Träumers, denn sein Traum erfuhr keine Unter­brechung, niemand kam, um ihn wachzurütteln, und also war er für die, die ihn hätten wachrütteln kön­nen, unerreichbar, Einbildung einer fremden, unbegreiflichen Phantasie, dieser in einer nicht erkennbaren Art unterworfen: ein geträumter Mensch, der sein Leben damit verbrachte,.sich ein eigenes, von den Visionen seines ursprünglichen Erträumens unabhän­giges Leben zu erträumen.

Da er in diesem Traum eines ande­ren und* dann auch in seinem eigenen Traum offenbar in irgendeiner Form existierte, und da ihm diese Existenz trotz aller Wahrnehmungen seiner Sinne fragwürdig und jedenfalls als et­was flüchtig an ihm Vorbeihuschen­des erschien, versuchte er beâgünsti­ger Gelegenheit mit der Anspannung aller Kräfte die transparente Hülle, die ihn einer unverletzbaren Haut gleich umgab, zu sprengen. Er atmete den Duft eines Gartens und faßte Hoffnung, endlich auf dem richtigen Weg zu sein und in einem sanften Au­genblick in die wahre Welt hinüberzu­treten, aber der Duft hatte in ihm Bil­der der Erinnerung geweckt, es war der Garten der Kindheit, in dem er sich befand, und die Sträucher und Blüten, die er betrachtete und berühr­te, erhielten ihre köstliche geheimnis­volle Bedeutung nicht aus sich selbst, sondern durch ihren Anteil am ge­träumten Leben: nicht Blütenblätter, nicht Laub und Geäst wirkten beglük- kend, sondern die Gefühle, die sich bei ihrer Betrachtung in Bewegung setzten: irgendeine erste scheue Hoff­nung, etwas Beängstigendes, das sich bemerkbar gemacht hatte und dann wieder verschwunden war, der un­deutliche Eindruck, selbst ein Teil die­ses Blühens und Wachsens zu sein, je­der Gefahr eines Zusammenstoßes mit dem Harten und Kantigem entho­ben: ja, dieses Schweben!

Es war ihm bekannt als Zustand des Träumens. Die Wirklichkeit blieb für ihn verschlossen, er befand sich nicht in einem Garten, sondern im Traumbild jenes Gartens, und da er sich so unverändert in seiner transpa­renten Hülle wiederfand, löschte er das Bild aus und suchte nicht weiter.

Es hätte noch ein Mittel gegeben - so dachte er noch -, ein einziges Mit­tel, seinen Zustand mit einem Schlag- zu verändern: den Unsinn zu tun und das Böse zu wollen, den Gleichklang zerstören, die GJeichmäßigkeit in Stücke hauen, und jene natürliche Treue zu brechen, die ihn mit seinen Erinnerungen verband. Die Zustände, die er träumend wahrgenommen hat­te, waren empörend, und die Übeltä­ter, die ihn angegriffen, die aber wäh­rend ihres Angriffs an ihm abgeglitten und vorbeigeschwebt waren, hatten ihm die Möglichkeit, das Böse um sei­ner selbst willen zu tun, gelehrt. Nur im Unsinn lag Rettung, nur im Ver­nichten steckte ein Körnchen Hoff­nung, nur der Griff nach der Bombe, die die geträumte Wirklichkeit in die Luft jagte, machte die Wirklichkeit erreichbar. Er begriff aber, daß ihm der Wahnsinn versagt blieb und daß er verloren war, da er nicht fähig war, das Böse zu wollen.

Eir stellte nun keine Fragen mehr, sondern überließ sich dem Traum und durchflog von da an leicht und lä­chelnd die Zeit, die ihm gegeben war, genügsam dahinsterbend, zuweilen auf das ferne Getöse lauschend, aber von Stille umgeben. Die Brand- und Blutspuren, die er hinterließ, sah er nicht, er begnügte sich damit, den Er­fordernissen seines Traumlebens zu entsprechen, und so flog er dahin durch den Raum, von fliegenden Bil­dern begleitet. Es gab kein Erwachen.

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