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Die Zahl der Obdachlosen wird allein in Wien auf etwa 4000 Personen geschätzt, manche Schätzungen sprechen sogar von über 7000. Die Hälfte von ihnen wohnt in Obdachlosenherbergen oder billigen Pensionen. Der Rest lebt ohne ständigen Wohnsitz, meist kurzfristig untergebracht bei Freunden oder Bekannten.

Der „harte Kern“ der Wiener „Sandler“, etwa 1000 Personen, zieht dagegen lieber Abbruchhäuser vor, das „Hotel Schiene“, diverse U-Bahn-Schächte und Parkbänke als ein festes Quartier. Erschreckend hoch ist dabei der Anteil von jungen Leuten, etwa die Hälfte der Obdachlosen sind unter 30 Jahren.

Es muß daher unser vordringliches Anliegen sein, gerade diesen jungen Menschen ein langjähriges „Sandlerdasein“ zu ersparen und frühzeitig und ausreichend zu helfen.

Eine der Hauptursachen für die steigende Anzahl von Außenseitern scheint nicht zuletzt im im-

mer härter werdenden Verdrängungswettbewerb unserer Industriegesellschaft zu liegen. Arbeiten und Hilfstätigkeiten, die früher von fachlich weniger qualifizierten Arbeitskräften ausgeführt werden konnten, werden heute von Spezialisten und hochqualifizierten Fachleuten erledigt. Aus diesem Grund besitzen Personen mit ungenügender oder überhaupt keiner Ausbildung so gut wie keine Chance auf dem Arbeitsmarkt.

Mehr als 80 Prozent aller Obdachlosen stammen aus unteren sozialen Schichten. Aus zahlreichen soziologischen Untersuchungen wissen wir, daß diese Menschen — im Vergleich zu anderen Bevölkerungskreisen — ausgeprägte Defizite in ihrer familiären und gesellschaftlichen Einbindung aufweisen.

Ein weiterer Grund für die steigende Anzahl von Obdachlosen liegt auch in der Tatsache, daß arbeitslose, haftentlassene und obdachlose Jugendliche oft gezwungenermaßen in die Anonymität der Großstadt fliehen. Eine nicht unwesentliche Rolle dabei spielt auch der Umstand, daß Wien im Gegensatz zu den Bundesländern eine weitaus liberalere Handhabung bei der Gewährung von Sozialhilfeleistungen aufweist und dadurch eine gewisse „Sogwirkung“ erzeugt.

Die Caritas der Erzdiözese Wien versucht nun, dieser Entwicklung der ständig zunehmenden Obdachlosigkeit zu begegnen, und hat in den vergangenen vier Jahren — zusätzlich zu den schon vorhandenen städtischen Obdachlosenherbergen - vier weitere Obdachlosenheime, darunter eines für Jugendliche, eingerichtet. In diesen Heimen finden derzeit etwa 200 Personen Platz. Es zeigte sich aber sehr bald, daß alle Häuser in kürzester Zeit voll belegt waren.

Für einen Teil der Obdachlosen, die oft schon jahrzehntelang das Leben eines „Sandlers“ mit all den daraus resultierenden gesundheitlichen und sozialen Folgen geführt haben, ist der Platz im Heim oft die einzige Möglichkeit, ihr weiteres Leben unter menschenwürdigen Bedingungen zu verbringen.

Bei einem anderen Teil der Obdachlosen, die oft noch relativ

jung sind (zwischen 16 und 35 Jahren), und noch nicht lange ar-beits- und obdachlos sind, kann und darf ein Heimplatz nur eine Zwischenstation im sogenannten Resozialisierungsprozeß sein. Er muß auch zum Erwerb einer eigenen Wohnung beziehungsweise Annahme einer regelmäßigen Arbeit führen.

Um diesen Prozeß der (Wie-der-)Eingliederung überhaupt ermöglichen zu können, begann die Caritas im September 1986 mit dem Projekt „Startwohnungen für Obdachlose“. Zu diesem Zweck sollen etwa 25 Hauptmietwohnungen der Kategorie D angemietet werden, in denen ehemalige Obdachlose als Untermieter befristet auf maximal ein Jahr „wohnen lernen“ sollen.

Bis Ende 1986 konnten trotz intensivster Bemühungen aber nur sechs Wohnungen angemietet werden, da kaum Hausbesitzer bereit sind, das Untervermietrecht einzuräumen. Argumente wie „wir wollen keine asozialen Elemente in unserem Haus“ waren da leider öfters zu hören. Jeder Bewerber für eine dieser „Startwohnungen“ wird mit Hilfe eines umfangreichen Erhebungsbogens sorgfältig ausgewählt.

Während dieses „Probejahres“ soll der Bewohner unter intensiver Betreuung durch einen Sozialarbeiter in einem stufenweisen Prozeß der persönlichen und wirtschaftlichen Verselbständigung lernen, selbständig zu wohnen, sein Geld selbst einzuteilen, Miete, Gas und Strom rechtzeitig zu bezahlen und einer regelmäßigen Arbeit nachzugehen.

Daß da auch mit Rückschlägen gerechnet werden muß, ist von vornherein klar, doch ist es bei rechtzeitigem Erkennen bestimmter Probleme möglich, durch entsprechende psychologische und pädagogische Maßnahmen die nötige Hilfe und Unterstützung dem Bewohner zukommen zu lassen. Nach Ablauf des Probejahres wird der Bewohner beim Erwerb einer eigenen Wohnung von der Caritas unterstützt und je nach Notwendigkeit im erforderlichen Ausmaß weiter betreut.

Der Autor ist Sozialarbeiter der Caritas in Wien.

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