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Leben mit dem Gesicht nach Osten

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Genau zwei Jahre ist es her, daß Alexander Solschenizyn aus seinem Haus in Moskau geholt wurde; Eine Staatsmacht reagierte. Solschenizyn, mittlerweile Nobelpreisträger und berühmtester Dichter seines Landes, wurde zusammengepackt und wie ein Stück Frachtgut über die Grenze nach dem Westen abgeschoben. Haben sich die Sowjets damals eines Riesen entledigt oder — an der Macht des Staates gemessen — eines widerspenstigen Zwerges? Und das ist der eigentliche Kern der Causa Solschenizyn: Wie groß war und ist wirklich der Einfluß eines Schriftstellers, der den Sinn seines Lebens darin sieht, um jeden Preis die offiziell unterdrückte Wahrheit zu sagen? Solschenizyns Ansehen innerhalb der Sowjetunion beruhte auf seiner moralischen Autorität, verstärkt durch den internationalen Widerhall und den Rang seines literarischen Werkes. Nicht seine politischen Ansichten, wie man sie eher als die eines weltfremden Moralisten abschätzen wollte, sondern seine moralische Lauterkeit und seine unerschütterliche Autorität erscheinen bis heute den Machthabem als die größte Gefahr, als Quelle „moralischer Ansteckung“, als der eigentliche Infektionsherd des Nonkonformismus. Inmitten der Niederlage der Ausweisung war es dennoch ein Sieg Solschenizyns.

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Genau zwei Jahre ist es her, daß Alexander Solschenizyn aus seinem Haus in Moskau geholt wurde; Eine Staatsmacht reagierte. Solschenizyn, mittlerweile Nobelpreisträger und berühmtester Dichter seines Landes, wurde zusammengepackt und wie ein Stück Frachtgut über die Grenze nach dem Westen abgeschoben. Haben sich die Sowjets damals eines Riesen entledigt oder — an der Macht des Staates gemessen — eines widerspenstigen Zwerges? Und das ist der eigentliche Kern der Causa Solschenizyn: Wie groß war und ist wirklich der Einfluß eines Schriftstellers, der den Sinn seines Lebens darin sieht, um jeden Preis die offiziell unterdrückte Wahrheit zu sagen? Solschenizyns Ansehen innerhalb der Sowjetunion beruhte auf seiner moralischen Autorität, verstärkt durch den internationalen Widerhall und den Rang seines literarischen Werkes. Nicht seine politischen Ansichten, wie man sie eher als die eines weltfremden Moralisten abschätzen wollte, sondern seine moralische Lauterkeit und seine unerschütterliche Autorität erscheinen bis heute den Machthabem als die größte Gefahr, als Quelle „moralischer Ansteckung“, als der eigentliche Infektionsherd des Nonkonformismus. Inmitten der Niederlage der Ausweisung war es dennoch ein Sieg Solschenizyns.

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Solschenizyn hatte sich immer als die Stimme der Unterdrückten, Verfolgten und Ermordeten verstanden. Nur so erklären sich sein Sendungsbewußtsein und sein Pathos, seine Unerbittlichkeit und sein Mut, seine dauernde Konfliktfreudigkeit, ja oftmals Aggressivität, sein Starrsinn und seine listig kombinierende Taktik, die sich des Samisdat ebenso zu bedienen weiß wie der westlichen Presse. Als Stratege in eigener Sache zog er es manchmal vor, zu schweigen, wo man eigentlich seine Stimme zu hören erwartet hätte. „Ich muß meine Kehle schonen für den Schrei, auf den es ankommt!“ verteidigte er sein Schweigen.

Nun ist die jüngst veröffentlichte Autobiographie Die Eiche und das Kalb ein authentischer, mit Zeit-

dokumenten ausgestatteter Lebensbericht, der für das Verständnis seiner nicht unproblematischen Persönlichkeit unerläßlich ist. Der Titel rührt von einem russischen Sprichwort her und überträgt das Bild von dem eigensinnigen, todesmutigen Kalb, das immer wieder gegen die alte, dumme Eiche anrennt und sich dabei nur die Stirn wundschlägt, selbstironisch auf die Situation von Autor und Establishment. Zwar sind er und seine Freunde aus dem Untergrund tatsächlich zunächst an der „Eiche“ gescheitert, wurden verhaftet, einige wenige ausgewiesen, zum westlichen Exil gezwungen. Doch die harte „Eiche“ ist dabei auch nicht unbeschädigt geblieben, hat unter dem Anprall einige Male sicht-

bar gewankt — und niemand weiß, was die Zukunft bringen wird.

Alexander Twardowski, in dessen Zeitschrift Nowij Mir Solschenizyns Erstlingsnovelle Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch erschien, hatte kurz vor seinem Tode und der erzwungenen Umbesetzung und später erzwungenen Schließung seiner Redaktion erklärt: „Die wollen unser Feuer ersticken, doch es brennt zu hell. Das bläst man nicht aus, das löscht man nicht mit Wasser. Damit es zu brennen aufhört, muß man wohl alle die brennenden Köpfe weithin zerstreuen. Dann wird es aus sein.“ Sicher hatte man in Moskau damit gerechnet, daß Ausweisung und Verpflanzung den so mit russischem Land und Wesen verbundenen Schriftsteller irremachen, ablenken und auf die Dauer „verdorren“ lassen werde. Einer unter Tausenden von Emigranten, werde er an Ausstrahlung und Wirkung verlieren. Einer der Sekretäre des Zentralkomitees der Partei und späterer Minister für Kultur meinte gar: „Wir brauchen Solschenizyn nur auszuweisen zu seinen Gönnern, er soll sich einmal das kapitalistische Paradies ansehen — dann wjrd er von selbst auf dem Bauch zurückkriechen.“

Düsteres Kapitel: Nobelpreis

Solschenizyn hat in den zwei Jahren seines Exils gewiß empfunden, wie er von anderen Interessen, anderen Traditionen erfaßt und beansprucht wurde. Verständigungsschwierigkeiten mit dem Westen sind aufgebrochen. Aber in einem ist die Rechnung mit der Abschiebung nicht aufgegangen: daß er sich habe irritieren lassen, daß er „von selbst auf dem Bauch“ zurückgekrochen gekommen wäre. Er lebt mit dem Gesicht nach Osten. „Er hat nicht seine

Heimat verloren“, schrieb Milovan Djilas, auch ein Dissident, ein Andersdenkender. „Solschenizyn trägt Rußland in sich und Rußland vergißt ihn nicht.“ Es ließ sich auch kaum vorstellen, daß einer, der so standhaft Lager und Verfolgung ertragen hatte, sich bei der schwierigen Anpassung an eine fremde Umwelt aufreiben, im Ausland verdorren und verstummen werde. Als ob nicht Turgenjew, Dostojewski], Gorki, um nur einige zu nennen, lange im west-

liehen Ausland gelebt hätten, ohne an künstlerischer Gestaltungskraft oder an russischer Eigenart auch nur das Geringste einzubüßen. Ivan Bunin erhielt sogar für seine in der Emigration geschriebene Prosa den Nobelpreis 1933.

Solschenizyn ist überzeugt, daß ein Mensch aus dem Osten den Westen besser verstehen könne als umgekehrt. Die westliche Welt sei durchsichtig, verberge nichts. Sein eigenes realistisches und wenig schmeichelhaftes Urteil über den Westen ist nicht erst die Folge seiner Erfahrungen im Exil. Oft beobachtete er in Moskau die Touristen aus dem Westen, wie sie „so satt, so geschniegelt, so beeindruckt waren von der anregenden Reise in das sowjetische Land“. Eine besonders arge Enttäuschung brachte ihm die Verleihung des Literatur-Nobelpreises 1970, die sowohl den Behörden in Moskau wie in Stockholm nur Ärger bereitete.

Erst Jahre später, im Dezember 1974, konnte Solschenizyn den Nobelpreis in Stockholm persönlich in Empfang nehmen und die traditionelle Ansprache halten: „Vier Jahre hat es gebraucht, um mir das Wort für drei Minuten zu geben ...“ hieß, es in der kürzesten aller Nobelpreisreden. „Die Akademie hat wegen ihrer Entscheidung viele Vorwürfe gehört, die darauf hinauslaufen, daß ein Preis dieser Art politischen Interessen diene. Aber das wird genau von jenen Schreihälsen geschrien, die keine anderen Interessen kennen. Wir alle wissen, daß das Werk eines Künstlers keinen Platz hat in der dürftigen Dimension der Politik. Denn diese Dimension kann nicht die Fülle unseres Lebens enthalten ...“

Mahner im Westen

Nach neuen Gegnern auch im Westen Ausschau haltend, war Solschenizyn unermüdlich; reiste, hielt Vorträge, gab Pressekonferenzen, schrieb Beiträge für führende europäische Blätter und fand sehr kritische Bemerkungen über den Westen und dessen „hemmungslose Profitgier“. Die neuen Feinde sah und sieht er in der banalen Sorglosigkeit der übersättigten Industriewelt, in der gutgläubigen, kompromißberedten Politik der Entspannung, in der unbegreiflichen Gleichgültigkeit der westlichen Demokratien gegenüber dem Kommunismus und dem unverminderten Machtanspruch des Sowjetregimes, deren Ziel immer noch die Unterwühlung und Zerstörung des Westens sei, trotz allen Geredes von Frieden, Entspannung und Koexistenz.

Von den Verhältnissen in Europa enttäuscht, fuhr der Mahner und Moralist für zwei Monate in die Vereinigten Staaten. Unter anderem sprach er in New York vor einigen tausend Geladenen des amerikanischen Gewerkschaftsbundes und in Anwesenheit namhafter amerikanischer Politiker, um das eingenickte Gewissen wachzurütteln. (Außenminister Kissinger, der die literarische Qualität Solschenizyns rühmt und zu dessen eifrigen Lesern zählt, soll dem Präsidenten abgeraten haben, in der heiklen Phase west-östlicher Entspannungsbemühungen Solschenizyn zu empfangen.)

Man kann einen Mahner von dem geistigen und moralischen Rang Solschenizyns nicht einfach überhören. Nichts an seiner Darstellung der Ziele, Methoden, geistigen Grundla-

gen und Bewegungsgesetze des Kommunismus ist falsch, und seine Mahnung, die Verteidigungsbereitschaft zu stärken, kann nicht ernst genug genommen werden. Es gibt für die Kenntnis des Kommunismus keine bessere Lehre als das literarische und zeitgeschichtliche Werk Solschenizyns. Ist es doch keineswegs gleichgültig, ob wir den Totalitaris-mus nur abstrakt kennenlernen oder ob er uns in der Anschaulichkeit seiner geschichtlichen Entwicklung dargeboten wird.

Solschenizyn argumentiert mit einem hohen ethischen Anspruch. Für ihn ist der Marxismus, diese verhängnisvolle, gottlose Irrlehre aus dem Westen, die Wurzel alles Übels in der Welt. Sollten uns für die Zukunft heilbringende Revolutionen vorbestimmt sein, so müßten das sittliche Revolutionen sein: ein gänzlich neues Phänomen, das es erst noch zu entdecken, zu prüfen, zu verwirklichen gelte. Die moralische Perspektive ist nicht nur das Recht des Schriftstellers und Moralisten, sie ist auch ein notwendiges Korrektiv, um Wahrheiten im öffentlichen Bewußtsein lebendig zu erhalten.

Hier setzt die Kritik des neben Solschenizyn bedeutendsten Oppositionellen, Andrej Sacharow, an seinem Freunde ein, von dem er übrigens für den Friedensnobelpreis 1975 vorgeschlagen wurde. Der geniale Naturwissenschaftler glaubt an den Fortschritt der Vernunft. Der Marxismus, den Solschenizyn so anprangert, sei in der heutigen Sowjetführung — die es auf reine Machterhaltung und -ausweitung abgesehen habe — gar nicht ausschlaggebend. Sacharow wehrt sich auch gegen jeden Versuch, Rußland von der angeblich „schädlichen“ Beeinflussung durch den Westen abzuschirmen. Im Gegenteil: die Annäherung an den Westen ist für ihn die erste Etappe zur „Demokratisierung der Sowjetunion“. Die angestrebten politischen und wirtschaftlichen Reformen entsprechen nicht nur den Idealen einiger weniger fortschrittlicher Intellektueller, sondern auch den realen Erfordernissen der entstehenden sowjetischen modernen Industriegesellschaft. Sacharow hat sicherlich oft recht — doch er übersieht oder es fehlt ihm der Zugang zu jenem Phänomen, das man als „Dämonie der Macht“ bezeichnet hat. Sacharows Optimismus ehrt ihn, Solchenizyns Skepsis aber deckt sich leider in vielem mit den menschlichen Erfahrungen. Bei allen einzelnen Irrtümern, die er vielleicht begeht, beurteilt er die Gesamtsituation seines Landes und der Welt zutreffender.

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