6913728-1981_18_05.jpg
Digital In Arbeit

Leben ohne Arbeit

Werbung
Werbung
Werbung

Die totale Freizeit, das Leben ohne Arbeit, d. h. die sozialen und psychischen Konsequenzen der Arbeitslosigkeit war das Thema einer mittlerweile klassischen Studie von Paul F. Lazars- feld über das Schicksal der Arbeitslosen von Marienthal.

Was Lazarsfeld und seine Mitarbeiter 1933 aus zahlreichen Gesprächen mit Arbeitslosen herausfanden, ist nicht nur ein erschütterndes Bild individueller Schicksale am Höhepunkt der Massenarbeitslosigkeit, sondern eine zeitlose, auch heute noch gültige wissenschaftliche Bestandsaufnahme des „Lebens ohne Arbeit“.

Fast fünfzig Jahre später (Sommer 1980) hat sich ein Team von Sozialwissenschaftlern neuerlich mit der Situation von Arbeitslosen beschäftigt. Insgesamt wurden 150 Arbeitslose über ihre soziale und psychische Befindlichkeit, ihre Zukunftserwartungen und Zukunftsängste befragt. Die Ergebnisse wurden unlängst veröffentlicht und machen deutlich, warum für verantwortungsvolle Politiker die Sicherung der Vollbeschäftigung nicht nur eine ökonomische, sondern eine moralische Kategorie darstellt.

Denn: Totale Freizeit, ohne Arbeit leben, bedeutet nicht nur drastische Senkung des gewohnten Lebensstandards, Verzicht auf gewohnte Anschaffungen und Ausgaben, Reduktion des finanziellen Spielraums, sondern wachsende Zukunftsängste, existentielle Befürchtungen vor einem Abgleiten des Lebensstandards in Randzonen unserer Konsumwelt. Einer Konsumwelt, der sich der Arbeitslose nicht entziehen kann, deren Werbebotschaften ihn auf Schritt und Tritt verfolgen und ihn sukzessive ins Abseits drängen.

Wer vor der Zeit der Arbeitslosigkeit finanziell gut abgesichert war, in einer geordneten sozialen Umwelt lebt und erst kurze Zeit arbeitslos ist, greift auf seine privaten Ressourcen zurück und versucht zumindest im alltäglichen Konsumbereich noch eine Zeitlang „mitzuhalten“.

Wer aber finanziell nicht abgesichert ist, ein weniger stabiles Verhältnis zur sozialen Umwelt hat (z. B.: Alleinstehende) und dann noch länger arbeitslos ist, der wird vom finanziellen Problem besonders hart getroffen. Bei ihm ist auch die Angst vor einem Verfall des sozialen Status („nicht mehr mithalten- können“, „von den anderen vergessen werden“) besonders stark ausgeprägt.

Die Arbeitslosigkeit bringt aber auch eine wesentliche Änderung des Zeit ablaufes mit sich, die direkt oder indirekt das Erleben wesentlich beeinflußt.

Denn die Eigenart der Arbeitslosenzeit ist ihre „diffuse Zielgerichtetheit“. Sie ist eine permanente Warte- bzw. Erwartungszeit und so ist jeder weitere arbeitslose Tag ein zusätzlicher spannungsgeladener und frustrationserfüllter Tag. Dies reicht von der als immer unangenehmer empfundenen Langeweile bis zur vollständigen Selbstentwertung, zur eigenen Einstufung als „unnützes Mitglied der Gesellschaft“.

Begleitet wird die Arbeitslosigkeit aber auch von einer einschneidenden Störung bzw. Zerstörung bestehender sozialer Beziehungen. Die sozialen Kontakte mit Arbeitskollegen werden nach der Kündigung immer sporadischer. Der Arbeitslose beginnt sich zurückzuziehen, denn was hat er seinen ehemaligen Arbeitskollegen noch mitzuteilen?

Die vertraute Arbeitswelt ist nicht mehr seine Welt, die betrieblichen Probleme nicht mehr seine Probleme. Er wechselt das vertraute Wirtshaus, er weicht aus, denn er fühlt sich „stigmatisiert“, auch wenn er an seiner Arbeitslosigkeit völlig schuldlos ist.

Für jeden vierten der befragten Arbeitslosen hat dieser „Rückgang“ bereits begonnen und ebenso die fatalen psychischen Konsequenzen. Jeder vierte Beschäftigungslose weiß bereits über Vorwürfe der Faulheit, der mangelhaften Bemühung um Arbeit zu berichten.

Leben ohne Arbeit ist auch im entwickelten österreichischen Sozialstaat der achtziger Jahre kein unfreiwilliger „Urlaub“, keine Phase der Rekreation und des abgesicherten „Ausruhens", sondern eine Zeit psychischer Krisen, der ziellosen Unrast, der Angst wie lange dieser Zustand noch anhalten wird.

Der „kritische“ Zeitpunkt, d. h. der Zeitpunkt, an dem die Arbeitslosigkeit psychische und soziale „Spuren“ zu hinterlassen beginnt, ist nach den Ergebnissen der vorliegenden Untersuchung ca. nach drei Monaten Arbeitslosigkeit erreicht.

So lautet auch die Schlußfolgerung dieser Untersuchung: „Wer niemand den dritten Monat seiner Arbeitslosigkeit überschreiten läßt, hilft am meisten.“

Als politische Empfehlung müßte man diese Schlußfolgerung noch schärfer formulieren: Nur eine Wirtschaftspolitik, die darauf abzielt, Arbeitslosigkeit überhaupt zu verhindern, ist eine menschliche Politik.

Einen bestimmten Prozentsatz an Arbeitslosigkeit als „Normalquote“ zu bezeichnen, mag das Recht von abstrakten Wirtschaftstheoretikern sein. Wer als Politiker bereit ist, bestimmte Arbeitslosenquoten als „normal“ hinzunehmen, handelt inhuman.

So ist auch das, was derzeit als „monetaristische“ Wirtschaftspolitik in Großbritannien vorexerziert wird, nicht nur eine falsche, sondern eine unmenschliche Politik, von der sich jeder anständige Politiker mit Abscheu distanzieren sollte.

Der Autor, zur Zeit Leiter der Grundlagenforschung in der OVP-Bundesparteileitung. ist Co- Autor der vom Fesselinstitut im Sommer 1980 durchgeführtcn Studie zur Lage der Arbeitslosen.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung