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Leben, so gut es geht...

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Es ist etwas sehr Verwunderliches, ganz und gar nicht Selbstverständliches, und sicher auch kein eindeutiges Zeichen des geschichtlichen Fortschritts, daß sich alle alten Völker so vielerlei Gedanken über das „Jenseits“ gemacht haben, während der moderne Mensch sich sichtlich dafür kaum noch interessiert. Es ist, als sei ihm eine Sehne durchschnitten worden, so daß er nach dem früheren Ziel nicht mehr laufen kann, als seien ihm die Flügel gestutzt, sei in ihm das geistige Organ für die Transzendenz verkümmert. Woher mag das kommen?

Die alten Völker hatten ja durchaus auch ihre irdischen Interessen; sie bauten ihre Häuser, Paläste, Tempel, organisierten ihre Staaten, führten ihre Kriege, schrieben Geschichte und dichteten Epen und Dramen: aber alles das schien ihren Hunger nach Dasein und Tätigkeit nicht zu stillen, sie träumten von einem anderen, ewigen Leben. Dabei waren die Vorstellungen, die sie sich davon machten, äußerst mannigfaltig, nicht nur von Volk zu Volk, sondern auch innerhalb des gleichen Volkes; die Bilder vom Jenseits wechselten, widersprachen einander auch oft, aber nur höchst selten fehlten sie ganz. Wenn Fortleben — in welcher Weise auch immer — geleugnet wurde, dann zumeist von einzelnen Philosophen, die außerdem fast immer einer späten, desillusio-nierten Epoche angehörten.

Es ist zugleich belehrend und rührend, sie aufzureihen, die Versuche dieser alten Völker, über die Mauern des vergänglichen Lebens hinauszublicken auf jenes geheimnisvolle Umgreifende hin, von dem niemand sich eine exakte Vorstellung machen kann. Wir haben, wenn wir diese Reihe abschreiten, irgendwo das Gefühl: an allen diesen Versuchen stimmt etwas, aber etwas anderes — vielleicht das meiste stimmt nicht. Wie jedoch das an jedem Bildversuch Stimmende mit dem übrigen zusammengereimt werden kann, ist wiederum unersichtlich.

Weit verbreitet ist die Vorstellung eines schattenhaften Weiterlebens — soll man sagen: Vegetierens? — der Gestorbenen; oft sucht man ihnen aufzuhelfen, indem man Speisen auf ihre Gräber stellt, damit sie sich in ihrer Hinfälligkeit daran stärken. Odysseus ist zur Unterwelt abgestiegen und hat den Schattenseelen eine Schüssel Blut zu trinken hingestellt, auf daß sie sich für einen kurzen Augenblick an das vergangene Leben erinnern. Das frühe Judentum hatte, wie viele andere Völker, ähnliche Vorstellungen. Der Tote ist freilich tot, abef er ist deswegen doch nicht nichts. Er ist der Gleiche, in einem anderen Zustand, einem wenig beneidenswerten, und der Lebende fühlt ein scheues Mitleid mit ihm: vielleicht könnte man ihm helfen.

Die Vorstellung kann sich auch umkehren: der Tote ist aus dem beklemmenden Wechsel, der ängstlichen Ungewißheit des Irdischen übergegangen in einen dauernden Zustand. Seine Ruhe ist erquickend, vielleicht ist sie auch nicht einsam: er ist „zu seinen Vätern versammelt“, ruht im „Schoß Abrahams“: dann erscheint Totsein gegenüber dem immerwährenden Sterben und Abschiednehmen hinieden wie eine Art immerwährendes Lebendigsein.

Aber zwischenhinein führt der Gedanke nach einer überzeitlichen Vergeltung: der Frevler und der ungerecht Leidende können im Jenseits nicht das gleiche Los haben. Etwas von seinen Taten folgt dem Menschen nach; und sicherer, als daß das Gute belohnt wird, ist, daß er das Arge, mit dem er die Weltordnung gestört hat, abbüßen muß.

Oder soll man sagen, der Mensch sei in Wahrheit eine Seele, die sich im vergänglichen körperlichen Leben in einer Fremde, einem „Grab“ befindet und durch den Tod daraus erlöst wird? Aber dann muß das Leibliche mit Irrtum und Schuld zusammenhängen, und dieser Gedanke will uns nicht befriedigen: es war trotz allem etwas Gutes, gelebt zu haben, nicht alles vom Erlebten möchten wir vergessen, auf ewig vermissen.

Aber hängen wir nicht zu sehr an unserem Ich? Ist es nicht Egoismus, in alle Ewigkeit immer dieses gleiche, enge, bei sich selbst verweilende Ich sein zu wollen? Bestünde die wahre Erlösung nicht eher darin, endlich aus dem Kerker dieses Ich auszubrechen und sich im All-Leben mit dem zu vereinen, was in diesen ungezählten Einzelwesen das Eigentliche, Bleibende, Wertvolle ist? Sollten wir nicht schon hienieden damit anfangen, unser Ich zu sprengen, unsere kleinen egozentrischen Standpunkte zu übersteigen, und von der Warte des Allgemeinen, für alle Gültigen zu urteilen, zu fühlen, zu handeln?

Keiner dieser Gedanken der alten Völker ist vollendbar, überall stößt das Tasten im Finstern an eine Wand. Und man kann die verschiedenen Gedanken auch nicht zusammenaddieren, um in der Summe die Wahrheit zu errechnen. Sie widersprechen einander. Aber welch ein Suchen! Welch unermüdliches Abschreiten des Kreises, ob nicht doch irgendwo die befreiende Türe sich fände! Welches Interesse am Sinn des Daseins, bis zur Herausforderung gegenüber den unbekannten Göttern, daß es mit dieser Sterblichkeit sein Bewenden nicht haben kann, daß der runde Sinn gefunden werden muß, koste es, was es wolle.

Woher aber nun diese Genügsamkeit heute? Man fragt nicht mehr, man lebt dahin und kostet, so gut es geht, den Augenblick aus. Es ist einmal egal, ob das Dasein mit dem Tod aus ist oder nicht. Man geht im Betrieb auf, Geldverdienen oder auch Entwicklungshilfe, man gönnt sich vielleicht mit Drogen eine kleine Exkursion in ein Traumparadies, man läßt sich vom bequemen Strom der Evolution dahintragen und ist schon zufrieden, wenn man sein winziges Scherflein zu einem (sehr fraglichen) Glück einer kommenden Menschheit beigetragen hat. Nicht alle sind so genügsam, aber doch sehr viele. Weshalb?

Es wäre nicht unmöglich, daß das Christentum Schuld daran trägt! Es hat auf eine Frage nach dem Sinn von Leben und Tod vom Osterereig-nis her eine so unerhörte Antwort gegeben, daß es gleichsam alles Tasten und Suchen der Menschheit auf sich hin konzentriert hat. Es fordert aber den Glauben, und der wird dem Menschen sauer. Verweigert er aus irgendwelchen Gründen das Ja zu Jesus Christus, so müßte er auf eigene Faust weitersuchen, und er fühlt: es lohnt sich jetzt nicht mehr. Die ganze Landschaft ist bereits durchstreift, es gibt nichts Neues mehr zu entdecken. Lassen wir's sein. Begnügen wir uns mit dem bißchen, wüs sicher ist: unserem sterblichen Leben. Das Christentum ist auch in dieser Hinsicht eine gefährliche Sache: „Wer nicht hat, dem wird auch noch genommen, was er hat.“

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