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Leben: Unantastba

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Bisher hatte die ,JLktion Leben“ den 11. Mai, den Jahrestag der Ablehnung des Volksbegehrens zum Schutze des Lebens, als „Tag des Lebens“ begangen. Heuer war es erstmals derl. Juni - als internationaler Tag des Lebens. Zusammen mit 20 anderen Organisationen veranstaltete die Aktion Leben“ zur Vorbereitung dieses Tages eine Enquete zum Thema „Gemeinsam für das Leben“. Im folgenden ein Auszug aus dem Einleitungsvortrag.

Das ganze menschliche Leben, des einzelnen wie das der Gesellschaft, beruht auf gewissen Prinzipien. Prinzipien sind dadurch ausgezeichnet, daß sie ein Erstes („princeps“) sind, das nicht noch einmal durch anderes definiert wird, denn sonst wäre dieses andere noch fundamentaler.

Die Prinzipienwahl ist ein Akt der Entscheidung. Man kann theoretisch nicht hinter ihn zurückgehen, wohl aber dann die Wirklichkeiten untersuchen, die durch verschiedene Prinzipien bedingt werden: Ob sie vernünftig sind, ob wir - letztendlich — in ihnen leben wollten. Es ergeben sich nämlich sehr • verschiedene Gesellschaften, je nachdem, was man etwa unter dem Prinzip Freiheit versteht und ebenso, was unter Mensch und damit Menschenwürde verstanden wird.

Definieren, wie gesagt, kann man es nicht, wohl aber ausfalten und konkretisieren. Bei der Menschenwürde, um die es hier geht, ist eine erste „Ausfaltung“ eine wesentliche Unterscheidung, die Immanuel Kant traf: die Unterscheidung zwischen Wert und Würde.

Werte nennt man philosophisch „Inhalte oder Gegenstände gerichteter Gefühle“, kürzer „begehrte Dinge“, die letzten Endes immer ihren Preis haben, also vergleichbar sind mit anderen und damit Güterabwägungen zugänglich.

Die Würde des Menschen als Wertträger ist jene Eigenschaft des Menschen, aufgrund derer er aus jeder abwägenden Berechnung ausscheidet, weil er selbst Subjekt und Maßstab der Berechnung ist...

Im kategorischen Imperativ heißt es entsprechend, daß kein Mensch nur als Mittel gebraucht werden dürfe, sondern immer auch als Zweck geachtet werden müsse. Konkret bedeutet das zunächst das Verbot von Sklaverei, Folter, Tötung Unschuldiger, sexuellem Mißbrauch. Das bedeutet aber auch, daß die Ehrfurcht vor dem Leben uns gerade dort besonders wachsam antreffen muß, wo es um Ungeborene und Kinder, um Schwache, Behinderte und Kranke geht... t

Ich las unlängst von einer ganz ernsthaft geführten Debatte in den USA im Zusammenhang mit Organtransplantationen, von „Harris' Uberlebenslotterie“. Folgender Fall wird fingiert:

Zwei schwerkranke Familienväter, etwa 30 Jahre alt, benötigen, der eine ein Herz, der andere eine Lunge zur Transplantation, um weiterleben zu können. In diesem Fall, so Harris, sollte der Computer einen etwa 50jährigen arbeitslosen Junggesellen auswählen, der dann - natürlich auf humanste Weise - getötet und ausgenommen wird. Denn, so das Fazit: Zwei Menschenleben sind' besser als eines.

Das ist ganz konsequent, wenn man der Menschenwürde nicht den ihr angemessenen Rang zuspricht, daß sie nämlich unvergleichbar mit irgendwelchen anderen Erwägungen ist.

Nimmt man den Utilitarismus (oberster Grundsatz dieser Ethik ist es letzten Endes, das größte Glück der größten Zahl herbeizuführen) nur gehörig ernst, dann muß der erste Schritt die Abschaffung der Unglücklichen sein. In der humanen Version heißt das Psychopharmaka, also Abschaffung des Unglücklich-Seins, in der weniger humanen wirkliche Abschaffung.

Und auch da ist es nicht nur eine philosophische Feinsinnigkeit, zur Konsequenz zu gelangen, daß etwa durch den Mord an einem Menschen, der keine Verwandten oder von ihm Abhängenden hat, eigentlich kein Unrecht ist — so Horkheimer und Adorno: Das Subjekt, dem .Unrecht' geschah, existiert ja nicht mehr. Und sonst ist niemand betroffen. Kein Unrecht: Außer der Mensch hat Würde und ist in seinem Sein als Spiegel der Gesamtwirklichkeit und in absolutem Bezug zu ihr und zur Transzendenz ein Wert an sich, das heißt außerhalb jeder Berechnung...

In meinem Heimatland beginnt der gesetzliche Schutz des menschlichen Lebens mit der Einnistung des befruchteten Eies in der Gebärmutter, in anderen Ländern im dritten Monat der Schwangerschaft. Im jüdischen Kulturkreis beginnt der Mensch mit seinem ersten Atemzug.

Der Nobelpreisträger Francis Crick forderte unlängst, das Menschenleben erst einige Monate nach der Geburt beginnen zu lassen — dann könnte man sich die aufwendigen vorgeburtlichen genetischen Untersuchungen schenken und alle nicht ausreichend gesund Geborenen einfach aussetzen. Im römischen Recht war ein Kind erst dann ein Mensch, wenn es der Vater akzeptiert hatte...

Was folgt aus diesen Zeitpunkten? Alle haben sie ja hervorragende Argumente für sich: den Verlust der Omnipotenz von Zellen, Gehirnentwicklung, das Fühlenkönnen, das Akzeptiertwerden durch Vater, Stamm oder Gesellschaft ... Alles ist stammesbiologisch, eugenisch, ethnologisch, historisch und so weiter gerechtfertigt.

Daraus kann man nur einen Schluß ziehen: Das Menschsein von solchen Argumenten abzukoppeln und an das einzig zweifelsfreie Kriterium zu knüpfen, ob ein Mensch Mensch ist: an seine biologische Zugehörigkeit zur Gattung! Anderenfalls ist jeder erwachsene Schäferhund mehr schutzberechtigt als ein neugeborenes Kind. Die biologische Zugehörigkeit ist ihrerseits geknüpft an die Verschmelzung von Ei und Samenzelle.

Jeder Mensch tritt in dieser Weise als gezeugtes und geborenes Mitglied in die Gesellschaft ein. Er ergreift seine Rechte, ohne sie anderen verdanken zu müssen, und verliert sie nicht wieder bis zu seinem Tod — unter keinen Umständen ...

Univ.-Prof. Reinhard Low ist Gründunesdirektor des philosophischen Instituts der Universität Hannover, sein Beitrag ein Auszug aus einem Vortrag bei der Enquete „Gemeinsam für das Leben“ am 27. Mai 1988 in Wien.

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