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Leben wir gegen die innere Uhr ?

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Eine neue Wissenschaft untersucht die Zeitabhängigkeit sämtlicher Lebensvorgänge. Die Tagesrhythmen des Menschen sind bisher am gründlichsten erforscht worden.

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Eine neue Wissenschaft untersucht die Zeitabhängigkeit sämtlicher Lebensvorgänge. Die Tagesrhythmen des Menschen sind bisher am gründlichsten erforscht worden.

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Unser Leben wird von der Dimension Zeit beherrscht. Was wären wir ohne Uhr, die uns weckt, an unsere Termine erinnert, zur Pünktlichkeit mahnt, unseren Tagesablauf reglementiert? Daß wir aber auch einer „inneren Uhr“ unterworfen sind, daß auch die Funktioneh unseres Organismus einem ganz genauen Zeitplan unterliegen, nehmen wir viel zu wenig ernst.

Nicht immer läuft unser biologischer Zeitgeber mit den Uhren des äußeren Lebens synchron. Gerät die innere Uhr des Menschen aus dem Takt, so geraten auch sein Wohlbefinden, seine Gesundheit ins Schwanken. Diese

Erkenntnisse liefert die Chrono-biologie, eine junge Wissenschaft, mit der man sich am Institut für medizinische Physiologie der Universität. Wien intensiv befaßt.

„Genau gesagt“, erklärt Brigitte Kopta zum Forschungsprogramm, das unter der Leitung von Universitäts-Dozent Wolfgang Marktl am Ludwig Boltzmann-Institut für Biorhythmusforschung in Bad Tatzmannsdorf läuft, „untersuchen wir die zeitlichen Aspekte biologischer Vorgänge“.

Diese Biorhythmen, vergleichbar mit den Gezeiten der Meere, steuern und regulieren die Funktionen des Organismus: Blutdruck, Körpertemperatur, Herzschlag, Atmung, Hormonausschüttung. „Als innere Uhr, der alle lebenden Organismen unterworfen sind, erfüllen die physiologischen Rhythmen zwei wichtige Aufgaben“, so Kopta, „erstens die optimale Abstimmung zwischen den Körperfunktionen und zweitens eine Anpassung an die sich periodisch ändernde Umwelt.“

So werden die einzelnen Phasen dieser Rhythmen von äußeren, periodischen Zeitgebern beeinflußt: Hell/Dunkelwechsel, tägliche Temperaturschwankungen, Lärm/Stille, Aktivität/Ruhe oder Zeitpunkt der Essenseinnahme. Die Länge der physiologischen Rhythmen reicht vom Sekunden-und Minutenbereich (Herzschlag, Atmung) über Tage bis zu einem Jahr und darüber hinaus.

Am besten erforscht wurden, bisher die „zirkadianen“ Rhythmen mit einer Periodenlänge von 20 bis 28 Stunden - bei den meisten Menschen haben sie sich auf 25 Stunden eingependelt, wie „Bunkerversuche“, bei denen sämtliche äußere Zeitgeber ausgeschaltet wurden, gezeigt haben.

Die „innere Uhr“ tickt nicht bei allen Menschen gleich. Lebensalter, Gesundheitszustand, aber auch Medikamente spielen eine Rolle. Bei ihren Versuchsreihen in Bad Tatzmannsdorf machten die Wissenschafter aber auch die Entdeckung, daß die biologischen Rhythmen geschlechtsspezifische Unterschiede aufweisen: Bei Mädchen erreichten die Bio-Rhythmuskurven eineinhalb bis fünf Stunden früher den höchsten Punkt als bei den untersuchten Burschen.

Bei Adrenalinmessungen stellte sich außerdem heraus, daß die „innere Uhr“ des weiblichen Geschlechts weniger störanfällig ist als die der männlichen Kollegen. „Die genaue Ursache für diese Phänomene kennen wir noch nicht. Vermutlich hängen sie mit dem Monätszyklus der Frauen und anderen langfristigen körpereigenen Rhythmen zusammen“, meint Kopta.

Unsere biologischen Rhythmen unterliegen nicht nur ganz individuellen, naturgegebenen Schwankungen — durch die Schaffung einer „künstlichen Umwelt“ bringt der Mensch seine „innere Uhr“ leicht aus dem Takt.

„Durch Schicht- oder Nachtarbeit oder Langstreckenflüge, bei denen Zeitzonen übersprungen werden, werden unsere biologischen Rhythmen gestört“, warnt die junge Wissenschafterin. Diese Störung schlägt sich in der Beeinträchtigung des Wohlbefindens nieder, der Organismus benötigt eine gewisse Zeit, um sich den ge-

änderten Bedingungen anzupassen.

Es ist sinnvoll, sein Leben nach der „inneren Uhr“ auszurichten und mit ihr in Einklang zu leben. Die Wissenschafter fanden ihre Vermutung, daß bei der Entstehung von chronischen Erkrankungen die physiologischen Rhythmen aus dem Gleichgewicht geraten, bestätigt: „Bei Patienten mit Bluthochdruck .tickt* die Körperuhr zu Beginn einer Kur ziemlich falsch. Tägliche Messungen von Blutdruck, Körpertemperatur, Hormonausschüttung und Harnwerten zeigten, daß sich die physiologischen Rhythmen nach einem rund dreiwöchigen Kuraufenthalt wieder auf den naturgegebenen Rhythmus einpendeln.

Auffällige Rhythmusunterschiede zeigten sich nur bei jenen Patienten, die Kurarten und -orte während sieben Jahren ständig wechselten.“ Außerdem entdeckten die Chronobiologen, daß die Einnahme von blutdrucksenkenden Mitteln (sogenannten Beta-Blockern) auch auf die „innere Uhr“ wirkt: die Rhythmus-Kurven flachten ab, ein deutliches Zeichen dafür, daß das allgemeine Wohlbefinden gestört ist.

Noch steckt die Chronobiologie in den Kinderschuhen, noch sind viele Fragen unbeantwortet. Nichtsdestoweniger sagt man der Wissenschaft von den Körperrhythmen eine ungeheure Bedeutung voraus. Das Wissen, welche Rhythmen in welcher Weise vor dem Ausbruch einer Krankheit aus dem Gleichgewicht geraten, könnte eine wichtige Rolle bei der Früherkennung von Krankheiten spielen.

Bis heute erfolgt die Diagnose einer Erkrankung beziehungsweise die Feststellung der Gesundheit anhand einer „Momentaufnahme“ der verschiedenen physiologischen Funktionen — obwohl bereits 1801 zeitabhängige, rhythmische Veränderungen bei Körpertemperatur und Blutdruck nachgewiesen wurden.

In Zukunft sollte die Dimension Zeit auch in der Pharmakologie verstärkt berücksichtigt werden. Bei Abstimmung auf die „innere Uhr“ läßt sich die Wirkung von Medikamenten optimieren, die Dosierung verringern, und die Nebenwirkungen lassen sich so minimieren.

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