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Lebendiges Denkmal für Günter Eich

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Mit dem Lebenswerk Günter Eichs zieht ein Stück Zeit- und Dichtungsgeschichte von 1927 bis 1972, dem Todesjahr des Dichters, an uns vorüber. Das wird in der neuen vierbändigen Ausgabe des Suhrkamp Verlages, von Axel Vieregg und Karl Karst ediert, vorbildlich dokumentiert. Gegenüber den von Heinz F. Schafroth besorgten, 1973 erschienenen „Gesammelten Werken" Eichs hat die vorliegende Neuausgabe zusätzliche Texte aus des Dichters Lyrik und Prosa, aus Rezensionen, Reden und Interviews aufgenommen und mit einem reichen Anmerkungsteil versehen.

Günter Eich, 1907 in Lebus an der Oder geboren, begann als Lyriker und veröffentlichte seine ersten „Gedichte" 1930 im Wolfgang Jess Verlag in Dresden, wo er an der von Martin Raschke und A. Artur Kuhnert herausgegebenen Zeitschrift „Die Kolonne" als regelmäßiger Mitarbeiter aufscheint. Weitere Gedichtbände erschienen unter den Titeln „Abgelegene Gehöfte" (1948), „Untergrundbahn" (1949), „Botschaften des Regens" (1955), „Zu den Akten" (1964), „Anlässe und Steingärten" (1966), „Nach Seumes Papieren" (1972). Seine Gedichte nähern sich immer mehr der Prosa und gehen schließlich in diese über. Das abgegriffene lyrische Vokabular wird vermieden, die

Thematik bewegt sich nicht in hergebrachten Bahnen, ohne daß etwas Abwegiges gewaltsam gesucht würde. Diese lyrische Stenogrammkunst weicht jedem Pathos aus. Hier erweist sich wohl des Verfassers Vertrautheit mit dem Chinesischen - Eich hat ja seinerzeit Sinologie studiert. Vom Alltäglichsten und Unansehnlichsten gehen die knappen dichterischen „Botschaften" aus: von einer Schuttablage vom Staub, von verschmierten Eisenbahnschienen, vom Truppenübungsplatz und Gefangenenzelt, von Ginsterruten und Himbeerranken, vom Taubenflug und von der verlorenen Häherfeder. Und doch überbrücken diese Botschaften den Alltag und weisen in eine Welt voll irrationaler Bezüge und Geheimnisse. „Ich bin Schriftsteller", sagt Eich, „das ist nicht nur ein Beruf, sondern eine Entscheidung, die Welt als Sprache zu sehen. Als die eigentliche Sprache erscheint mir die, in der das Wort und das Ding zusammenfallen."

Ein klassischer Hörspielautor

Zureigentlichen Domäne Eichs aber wird das Hörspiel, das dem Wort und der Wortkunst neue, bis dahin nicht geahnte Möglichkeiten eröffnet. Durch das aufnehmende Ohr wird das Wort zum wirkenden Wesen, nicht bloß zum begleitenden Instrument des Handels wie in der Welt der dramatischen Dichtung auf der Bühne. Der Dichter hat diese Möglichkeiten in seinen vielen Hörspielen - sie füllen zwei Bände der 2.916 Seiten umfassenden Gesamtausgabe - voll ausgeschöpft. Es sind Hörspiele, die den Aufnehmenden bannen, beim Zuhören wie beim Nachlesen. Traum und Wirklichkeit fließen ineinander, reale Welten und irreale Erlebnisschichten wechseln, Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft vertauschen ihre Chronologie, Jenseitiges bricht ins Diesseits ein. So wird die Wirklichkeit um neue Dimensionen vermehrt.

Dieser klassische Hörspielaütor war auch ein Kenner und unbestechlicher Kritiker der zeitgenössischen Literatur. Das bekunden seine zahlreichen Rezensionen über die Situation und Entwicklung der Lyrik, seine diversen Besprechungen von Werken eines Gottfried Benn, Hermann Hesse, Guido Zernatto, Hermann Kasack, Georg von der Vring, Wolfgang Hildesheimer und vieler anderer.

In einem Gedicht (es ist „Briefstelle" betitelt) sagt Eich einmal: „Der Schmerz bleibt, die Bilder gehen". Für des Dichters lyrische Bilderwelt und für die akustische Klangwelt seiner Hörspiele möchte man diesen Satz umkehren und ergänzen: Der Schmerz geht, die Bilder und die Klänge bleiben.

Günter Eich, seit 1953 mitder österreichischen Dichterin Ilse Aichinger verheiratet, ist am 20. Dezember 1972 in Salzburg gestorben.

GESAMMELTE WERKE IN VIER BÄNDEN. Von Günter Eich. Suhrkamp Verlag. Frankfurt 1991. 2.916 Seiten, öS 2.324,40.

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