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Lebendiges Mittelmaß

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Wachablöse im Kreml, wo der als Apparatschik geltende Konstantin Tschernenko ans Ruder gekommen ist. Wie ist der neue KPdSU-Chef einzuschätzen und was ist von ihm zu erwarten? Viel Spielraum für Eigeninitiative ist auch dem Andropow-Nachfolger nicht gegeben.

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Wachablöse im Kreml, wo der als Apparatschik geltende Konstantin Tschernenko ans Ruder gekommen ist. Wie ist der neue KPdSU-Chef einzuschätzen und was ist von ihm zu erwarten? Viel Spielraum für Eigeninitiative ist auch dem Andropow-Nachfolger nicht gegeben.

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Konstantin Tschernenko, seit Anfang letzter Woche Generalsekretär der KPdSU, ist im auffallenden Unterschied zum Vorgänger Jurij Andropow der Idealtyp eines sowjetischen Spitzenfunktionärs, der zum Ersten unter Gleichen gekürt wird: Betagt, und damit der noch herrschenden Ge-rontokratie in Moskau akzeptabel, im Laufe eines langen Lebens in der allmächtigen Partei hochgestiegen und dort in die Basis der Macht etabliert, bis in die Knochen konservativer Wächter der Ideologie und anscheinend frei von dem Argwohn, jemals Originalität zu entwickeln und die eingefahrenen Bahnen zu verlassen.

Wenn es noch eines Beweises bedurft hätte, die Persönlichkeit Tschernenko liefert ihn: Im Kreml ist das Mittel Maß aller Dinge.

Als der Tod Stalins blutiger Diktatur ein Ende setzte, wurden nicht die intellektuell ungleich höher stehenden und gebildeteren Malenkow und Beria in die Parteiführung gehoben, sondern der bis dahin unauffällig wirkende, bauernschlaue Nikita Chruschtschow. Doch gerade dieser entwickelte sich zum eigenständigen Individualisten, der nicht nur Stalin vom Sockel stieß, sondern die östliche Großmacht auf einen sprunghaften Wechselkurs setzte, der schließlich den Kollegen in der Parteispitze zu bunt wurde.

Leonid Breschnew setzte dagegen sein Postulat von Stabilität, das die Nomenklatur in den Stand versetzte, ihre Privilegien in Ruhe zu genießen. Je mehr sich jedoch die Gesundheit des Kremlführers verschlechterte, um so mehr versank das östliche Reich in Stagnation.

Andropow hat, solange die Kraft reichte, Parteibürokratie und Wirtschaftsmanagement aufgeschreckt, um das Land aus der Lethargie zu wecken. Zum Nachfolger des Verstorbenen wurde Tschernenko gewählt, weil den Herrschenden im Kreml selbst der zaghafte Belebungsversuch des vormaligen KGB-Chefs zu gefährlich schien. Jetzt beginnt Tschernenko dort, wo ein kranker und in Ehren erstarrter Breschnew aufgehört hat, also reichlich tief.

Die Welt weiß nicht allzuviel über den neuen Generalsekretär, und allein das ist schon ein Grund zur Hoffnung. Er ist der Apparatschik, der als einstiger Waffengefährte Breschnews von diesem bis ins Politbüro hochgezogen worden war.

Tschernenko der Parteimann, dem nicht nur eine fundierte Schulausbildung, sondern auch tiefe Sachkenntnis in außenpolitischen, in sicherheits- und militärischen Belangen abgeht; freilich auch ein Charakter mit außerordentlicher Widerstandskraft, dem es gelang, zurückzukehren, obwohl er nach der Niederlage vor 15 Monaten schon als politisch Toter galt.

Noch ist Tschernenko mitten in der Phase echter kollektiver Führung. Gromyko und nicht er prägt die Außenpolitik, Verteidigungsminister Ustinow und Oberkommandierender Ogarkow gebieten über die Verteidigung.

Es ist zweifelhaft, ob Tschernenko die weiteren Stufen der Machtansammlung in einer für sowjetische Begriffe so atemberaubenden Geschwindigkeit wie Andropow überwinden wird: Vorsitzender des Verteidigungsrates, um sich formal gegenüber den Militärs in Vorteil zu setzen, Staatspräsident.

Was zählt, ist Lupenreinheit in der Weltanschauung. Tschernenko ist der Nachfolger der (1982 gestorbenen) grauen Kreml-Eminenz Michail Suslow als Wächter ideologischer Reinheit. Als solcher predigte er auf dem letztjährigen Juni-Plenum des Zentralkomitees Orthodoxie neostalini-stischen Musters: „Es gibt Wahrheiten, die niemals revidiert werden können ... Probleme, die schon lange gelöst sind."

Zu erwarten, daß Tschernenko auf ideologischem oder kulturellem Gebiet die Zügel werde schleifen lassen, hieße an Kindermärchen zu glauben. Mit innerer Opposition und Bürgerrechtskämpfern hat übrigens Vorgänger Andropow als Chef des Geheimdienstes so gründlich aufgeräumt, daß dem neuen Führer deshalb keine schlaflosen Nächte verursacht werden.

Zu den gelösten Problemen gehört die Wirtschaft des Landes mit Sicherheit nicht. Die chronische Schwerfälligkeit und Ineffi-zienz sind mit alten, immer wieder aufgewärmten Heilmitteln sicherlich nicht zu beseitigen. Reform an der Substanz, Auflösung des starken Zentralismus als Hemmschuh jeder modernen industriellen Entwicklung ist die Lebensfrage der sowjetischen Wirtschaft.

Was selbst den verstocktesten Bürokraten zu denken geben sollte: Selbst in der bevorzugten Rüstungsindustrie sinken die Wachstumsraten, wie Marschall Ogar-kow im „Kommunist" beklagt. Am Vorrang der Rüstungsindustrie wird Tschernenko sicherlich nicht rühren, obwohl anderswo dringend Investitionen nötig sind.

Die Arbeitsproduktivität ist erschreckend niedrig, ein vitales Problem, da der gewohnte natürliche Zuwachs der Arbeitskraft versiegt. Soll die Wirtschaft wachsen, dann nur durch höhere individuelle Leistung und technisch bessere Maschinen. Es sind nicht die parteifrommen Sprüche vom neuen, selbstlosen Menschen, die den Arbeiter veranlassen, sich mehr in die Riemen zu legen, vielmehr materielle Anreize: mehr und bessere Konsumgüter.

Wird Tschernenko über den eigenen Schatten springen oder wider bessere Einsicht beim alten Rezept bleiben, das da heißt: Dogma vor Realität, Planziele vor eigentlicher Nachfrage, Parteidiktat vor Entfaltung des Schöpferischen? So oder so, viel Zeit bleibt ihm nicht.

In den Außenbeziehungen des Kreml sind Hoffnungen geweckt, die mit Vernunftgründen nicht abzusichern sind. Allein die Tatsache des personellen Wechsels an der Spitze nährt die Erwartung von Entspannung und Rüstungskontrolle.

Auch der Kreml benötigt die Rückkehr zu Detente und eine Linderung des Wettrüstens. Der Unterhändler in Genf wurde nicht zuletzt auch deshalb abgezogen, weil die Instruktionen vom Krankenbett Andropows ausblieben.

Der blasse Bürokrat an der Spitze des Kreml kann die Welt nur im angenehmen Sinne überraschen. Hat sich nicht Vorgänger Chruschtschow ganz anders entwickelt, als die Voraussagen vermuten ließen?

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