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Lebensfähige Demokratie

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FURCHE: Herr Kulin, die künfti- ge, vom Demokratenforum (MDF) geführte Regierung übernimmt auch die Protektions- und Korruptions- netze in Wirtschaft und Verwaltung, die das vergangene Regime geschaf- fen hat. Wie will man damit fertig werden?

FERENC KULIN: Bloße Wirt- schaftsmaßnahmen werden nicht ausreichen, um sie zu beseitigen. Wir müssen bei einer resoluten Regierungsarbeit für die Förderung des Ausbaus der lokalen Selbstver- waltungen beziehungsweise der Demokratie am Arbeitsplatz sor- gen. Darunter verstehe ich Gewerk- schaften neuerer Art und die Ar- beiterräte. Dies bietet die Garantie dafür, daß im staatlichen Sektor die Führung nicht nur von der Regierung, sondern auch von den eigenen Belegschaften kontrolliert wird.

FURCHE: Und wie schnell kann das erreicht werden?

KULIN: Das gehört zu den vor- dringlichsten Aufgaben. Denn soll- te sich die Wirtschaft auf die Weise stabilisieren, daß sie die korrupten Führungsmannschaften der ver- gangenen Ära mitschleppt, so wird das verhängnisvolle Folgen haben.

FURCHE: Geht es nur um die Führungskräfte?

KULIN: Es ist wahr, daß die Kor- ruption auch in der Sphäre des Staatsbürgers Platz gegriffen hat. In diesem Lande konnte man nur dann vorankommen und einen re- lativen Wohlstand erreichen, wenn man die Vorschriften mißachtete. Das vergangene System hat der Gesellschaft die Korruption gera- dezu aufgezwungen. Das kann man auch als eine Volkskrankheit be- zeichnen, die mit bloßer Regie- rungsarbeit nicht zu heilen ist. Hier muß eine ganze Kultur umgeformt, und demokratisiert werden. Das kann Jahre dauern.

FURCHE: Früher war es, gelinde gesagt, ratsam, der Partei anzuge- hören, wenn man vorwärts kom- men wollte. Heute hat das Forum der Ungarischen Demokraten ei- nen Massenzulauf zu verzeichnen. Es war bereits von einem Aufnah- mestop die Rede.

KULIN: Wir planen keine Auf- nahmesperre.

FURCHE: Besteht denn nicht die Gefahr, daß jetzt jene rückgratlosen Karrieristen ins Forum eintreten, die letzlich stets feste Stütze des vergangenen Regimes waren? Die Frage, woher jemand kommt, wird bei ihnen offenbar aus dem Grunde nicht gestellt, weil selbst der Füh- rung des Forums einige ehemalige Reformkommunisten angehören.

KULIN: Für die Aufnahme neuer Mitglieder sind die Ortswerbenden zuständig, die sich in ihrer Umge- bung auskennen. Eine zentrale Weisung würde diesbezüglich fehl

am Platze sein. Wir vertrauen dem Urteil unserer Mitglieder. Die Zahlen sprechen übrigens für sich. Nach dem Wahlsieg ist unsere Mit- gliederzahl von 25.000 auf etwa 31.000 gestiegen.

FURCHE: Der Tag der Regie- rungsbildung naht - es ist der 20. Mai. Sieht man von wohlklingen- den Phrasen ab - wie vom guten Verhältnis zur UdSSR oder gar von einer Neutralität nach öster- reichischem Muster -, so gibt es immer noch keine verläßliche Äu- ßerung des Forums über die künfti- ge Mitgliedschaft des Landes im Warschauer Pakt.

KULIN: Jede unserer diesbe- züglichen Äußerungen enthält die Feststellung, daß das Forum das Ableben, das heißt die Auflösung des Warschauer Paktes als einen natürlichen Vorgang betrachtet. Dieser Prozeß ist de facto stärker vorangeschritten als de iure. Wir sind allerdings nicht daran inter- essiert, ihn mit einem politischen Akt für abgeschlossen zu erklären, da weite Teile der sowjetischen Truppen, über deren Abzug ja ein Vertrag unterzeichnet worden ist, sich nach wie vor in unserem Lande aufhalten. Es handelt sich um den natürlichsten Selbstverteidigungs- reflex der neuen ungarischen Poli-

tik.

FURCHE: Der Regierungskoa- lition unter einem Ministerpräsi- denten JözsefAntall wird die Christ- lich Demokratische Volkspartei angehören. Seit das Forum im ver- gangen Herbst für kurze Zeit einen Präsidentschaftskandidaten auf- stellte, entdeckte es in sich zuneh- mend ausgesprochen christliche Züge. Wie christlich ist das Forum Ungarischer Demokraten?

KULIN: Wir waren nie eine welt- anschauliche Partei und werden es auch nie sein. Im Forum dominie- ren allerdings drei Hauptrichtun- gen: die christliche, die liberale und die populistisch-nationale. Das Forum ist eine Synthese dieser drei. Die Tatsache allerdings, daß die europäische christliche Demokra- tie bis zur Stunde die engsten Be- ziehungen zu uns aufgebaut hat, stärkt freilich die Position unseres christlich demokratischen Flügels.

FURCHE: Wie lange wird Ihrer Ansicht nach das Forum an der Regierung bleiben?

KULIN: Ich hoffe sehr, daß keine politische Katastrophe die bevor- stehenden vier Jahre verkürzen wird. Nicht nur das Forum, son- dern das ganze Land ist daran in- teressiert, daß die Demokratie lang- fristige Möglichkeiten erhält, um ihre Lebensfähigkeit unter Beweis zu stellen.

Ferenc Kulin (47), Universitätsdozent, Chef- redakteur der Wochenzeitung des Schriftsteller- verbandes „Magyar naplö", als Reform- kommunist Grunder des Forums, ist seit Herbst 1989 stellvertretender Vorsitzender des MDF Mit ihm sprach Gabor Kiszely

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