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Lebensgeschichten als historische Quelle

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Ein historisches Archiv besonderer Art feiert in diesen Tagen seinen zehnjährigen Bestand: Die „Dokumentation lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen” am Wiener Institut für Wirtschaftsund Sozialgeschichte.

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Ein historisches Archiv besonderer Art feiert in diesen Tagen seinen zehnjährigen Bestand: Die „Dokumentation lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen” am Wiener Institut für Wirtschaftsund Sozialgeschichte.

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Die Anfänge dieser Sammlung stehen mit einer Publikation in Zusammenhang, die 1983 im Böhlau-Verlag erschienen ist. Eine Kleinhäuslers-Tochter aus der „Bücklingen Welt” hatte die Geschichte ihrer Kindheit und Jugend für ihre Familie aufgeschrieben. Durch einen Zufall kam dieses beeindruckende Lebensbild in ein „Oral-History”-Seminar an die Universität und von hier zum Verlag. Die Veröffentlichung von Maria Gremels „Mit neun Jahren im Dienst - Mein Leben im Stübel und am Bauernhof war nicht nur der Ausgangspunkt für die Publikation einer Reihe von Autobiographien „kleiner Leute”, die seither unter dem Titel „Damit es nicht verlorengeht...” erscheint; sie bildete auch den Anlaß dazu, daß seitens der Wissenschaft systematisch nach ähnlichen Zeugnissen gesucht wird. Der Bestand an solchen Zeugnissen der „populären Autobiographik” ist in der Wiener Dokumentation schon auf über 800 angewachsen.

Daß Lebensgeschichte schreiben für die persönliche Selbstfindung wichtig sein kann, steht sicher außer Streit. Ebenso ist es evident, daß die Beschäftigung mit der Lebensgeschichte andere Prozesse der Selbstreflexion auslösen kann. Der Bildungswert populärer Autobiographik bedarf so wohl keiner weiteren Argumentation. Aber was hat die Wissenschaft damit zu tun? Welchen Quellenwert haben solche Selbstzeugnisse für die historische Forschung? Kann man auf der Grundlage derart subjektiver Quellen überhaupt zu validen Aussagen kommen?

Der andere Buckwinkel

Wenn sich die Geschichtswissenschaft neuerdings immer mehr der Autobiographie als Quelle zuwendet, so hat das sicher mit veränderten Forschungsinteressen zu tun - dem vielzitierten „Paradigmen Wechsel”, durch den historisch-sozialwissenschaftliche beziehungsweise historisch-anthropologische Themen stärker in den Vordergrund gerückt werden.

Die populäre Autobiographik vermag aber durchaus auch zu „klassischen” Themen ihren Beitrag zu leisten. Im eben erschienenen Band 24 der Reihe „Damit es nicht verlorengeht...” ediert und interpretiert Christa Hämmerle Auszüge aus Autobiographien von 24 Frauen und Männern der Geburtsjahrgänge 1892 bis 1915. Es geht also um generationsspezifische Erfahrungen, die durch Ereignisse der politischen Geschichte bestimmt sind. Über das politische Verhalten der so Geprägten haben diese Erfahrungen wiederum auf die politische Geschichte zurückgewirkt. Im gleichzeitig erschienenen Band 25 „Alle Jahre wieder... Weihnachten zwischen Kaiserzeit und Wirtschaftswunder” sind generationsspezifische Erfahrungen von politischem Geschehen angesprochen. Die 46 hier zusammengestellten Erzählungen zeigen anschaulich, wie sehr die vielfältigen Erlebnisweisen von Weihnachten vom politischen Zeitgeschehen mitbestimmt sind. Die

Verbindung von Politik und Alltag, das Einbeziehen von Erfahrungsgeschichte - das sind neue Zugangsweisen, die auch Themen der politischen Geschichte neue Einsichten eröffnen.

Die wichtigsten Ergebnisse einer wissenschaftlichen Auswertung von populärer Autobiographik sind aber sicher auf dem Gebiet der Sozialgeschichte zu erwarten. Am Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte wurde diese neue Quellengattung zunächst für Forschungen auf dem Gebiet der Sozialgeschichte der Familie genützt. Sie ermöglichte eine andere Zugangsweise als quantifizierend auswertbare Massenquellen wie Pfarrmatriken oder Volkszählungslisten. Im Vergleich zu solchen „harten Daten” statistischer Art könnte man die Informationen, die aus Lebensgeschichten zu gewinnen sind, als „weiche Daten” bezeichnen. Was Zeugnisse der populären Autobiographik über Familienleben oder Familienbeziehungen aussagen, läßt sich nicht in der gleichen Weise in Prozentzahlen erfassen wie der Anteil von „Kernfamilien” oder von „erweiterten Familien” in einer Zensusliste. Es ist deswegen aber nicht weniger relevant. Man soll die eine Quellengattung nicht gegen die andere ausspielen. Vielfach gewinnt die eine erst unter Berücksichtigung der anderen ihre volle Aussagekraft. Wie für die Geschichte der Familie gilt diese ergänzende Funktion auch für viele andere Bereiche sozialgeschichtlicher Forschung, etwa für die Schule oder die Arbeitswelt.

Neben Zweifeln an der Repräsen-tativität lebensgeschichtlicher Quellen ist der subjektive Charakter ihrer Aussagen ein häufig vorgetragener Einwand. Autobiographien informieren uns über Erfahrungen, Einstellungen, Motivationen, Wahrnehmungsformen und Deutungsmuster ihrer Verfasser. Daß es sich dabei um subjektive Momente handelt, steht außer Zweifel. Aber sind solche subjektive Momente nicht auch soziale Realität? Können wir soziales Handeln überhaupt richtig erfassen, ohne solches einzubeziehen? Die neuere Sozialgeschichteforschung wird sich deren Bedeutung immer stärker bewußt. Damit gewinnen lebensgeschichtliche Selbstzeugnisse für sie zunehmend an Wert.

Schwieriger Quellenzugang

In einem Punkt unterscheiden sich die Zeugnisse der populären Autobiographik wesentlich von vielen traditionellen Quellen des Historikers: in ihrer Überlieferung. Sie befinden sich meist verstreut im Privatbesitz bei Autoren oder deren Erben. Für den Forscher ist es daher schwierig, an solche Quellen heranzukommen. Die „Dokumentation lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen” am Institut für Wirtschafts-und Sozialgeschichte der Universität Wien (A 1010 Wien, Dr. Karl Lue-ger-Ring 1, Tel.: 40103/ 2359) soll diesbezüglich Abhilfe schaffen, indem sie Kopien von Autobiographien zentral zugänglich macht. Damit darf die Bitte verbunden werden, Hinweise auf Autobiographien aus Pivatbesitz weiterzugeben oder die Anfertigung von Kopien für die Dokumentation zu ermöglichen.

Michael Mitterauer ist Ordentlicher Professor am Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Universität Wien

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