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Digital In Arbeit

Lebenshelfer

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Die Erkenntnis' traf mich wie ein Keulenschlag: ich lebte im Grunde wie ein Seiltänzer ohne Netz. Mein Wohlergehen war der Bedrohung durch die vielfältigsten Imponderabilien ausgesetzt gewesen, ohne daß mich das in die gebührende Panik versetzt hätte. Halsstarrig, wie ich bin, hatte ich mir eingebildet, das Leben schon irgendwie zu meistern.

Die Erleuchtung kam mir beim letzten Besuch in meinem Buchladen. Arglos hatte ich mich von der Belletristik bis zu den Sachbüchern vorgeschmökert, und da wurde es mir plötzlich klar: niemand kam mehr ohne sie aus, alle ließen sich gern und willig von ihnen leiten, verdankten ihnen Glück, Zufriedenheit, Erfolg, Gesundheit. Nur ich — wer war ich denn, daß ich glaubte, mir das erlauben zu können — meinte, von all den Lebenshelfern und Ratgebern nichts zu brauchen.

Ebenso blitzartig, wie ich meinen Hochmut eingesehen hatte, beschloß ich, eine radikale Umkehr in die Wege zu leiten. Ich ging dabei mit dem mir eigenen Sinn für systematisch-strategisches Vorgehen zu Werke und bę- gann noch an Ort und Stelle, mein Leben im Lichte der frisch gewonnenen Erkenntnis neu zu gestalten.

Zu Hause ging ich sofort ans Werk und legte mir einen Stundenplan zurecht.

Montag, 17.30: Kurs für biologisches Kochen, 19.00: Autogenes Training, 19.15: Kaltwasseranwendung gegen Durchblutungsstörungen, 19.30: Biologisches Nachtmahl, 20.00: Lektüre des Buches „In dreißig Tagen Millionär“, 21.00: Jogging, 21.30: Reflexzonenmassage, 21.45: Lektüre des Buches „Glück aus den Sternen“, 22.30: Partnermassage.

Dienstag, 17.30: Kurs für Väter neunjähriger Kinder, 19.00: Akupressur gegen Ohrensausen, 19.15: Aromatherapie gegen Politikerverdrossenheit, 19.30: Biologisches Nachtmahl, 20.00: Lektüre des Buches „Wie werde ich ein ge sunder Egoist?“, 21.00: Meditationsstunde, 22.00: Tagebuch für den Psychiater schreiben. Mittwoch, 18.00: Sitzung beim Psychiater, 19.00: Medienverbundprogramm „Dein Recht als Steuerzahler“, 19.30: Biologisches Nachtmahl, 20.00: Lektüre des Buches „Gesundheit aus dem Kräutergarten“, 21.00: Farbthera- pie gegen Berufsstreß, 21.15: Aerobic, 21.30: Kräuterteestunde, 22.00: Selbsthypnose.

Donnerstag, 17.30: Musiktherapie-Gruppe, 19.00: Cassetten- Lehrgang „Konflikte lösen mit I Ging“, 19.30 Biologisches Nachtmahl, 20.00: Sauna, 21.30: Lektüre des Buches „Kreative Selbstverwirklichung“, 22.30: Partner-Isometrik.

Freitag, 16.00: Diskussions-Training, 18.00: Kurs „Biorhythmik für Fortgeschrittene“, 19.00: Kommunikations-Training, 19.45: Bio- Jause, 20.00: Yoga, 21.00: Video- Kurs „Das Spiel als Gruppenprozeß“, 22.00: Zen-Meditation. Samstag, 14.00: Familientherapie, 16.00: Lektüre des Buches „Der Weg zum perfekten Testament“, 17.00: Arbeitskreis für alternative Ernährung, 19.00: Arbeitskreis für alternative Heilweisen, 21.00: Leichter Bio-Nachthappen, 21.30: Experimente mit der Energie-Pyramide.

Sonntag, 11.00: Body-Building- Kurs, 14.00: Treffėn der Freunde der chinesischen Astrologie, 17.00: Sensitivitäts-Training, 18.00: Lek türe des Buches „Selbsterkenntnis nach der Methode des Häuptlings .Klares Auge“1,19.00: Gehobenes Bio-Nachtmahl, 20.00: Gesprächskreis „Analytische Psy- chosynthese“, 22.00: Katathymes Bilderleben. ■

Zufrieden betrachtete ich mein Werk. Jetzt galt es noch, ein Verzeichnis jener Dinge anzulegen, die, ohne einen fixen Platz im Stundenplan zugewiesen erhalten zu haben, sozusagen zwischendurch immer wieder bedacht sein wollten. Ich war mir dessen bewußt, daß die Liste nicht gleich vollständig sein konnte, denn schließlich wollte und mußte ich für neue Entwicklungen und Angebote offenbleiben.

Ich ging also an eine mehr oder weniger demonstrative Aufzählung: Prinzip des positiven Denkens, Menschenbeeinflussung durch PSI-Kräfte, Beachten der Körpersprache, gesunde Ernährung, Bewegungspausen, Meditationsminuten, homöopathische Medikamente, Erdstrahlen aus dem Weg gehen, Gemüsesäfte trinken, Shiatsu, Tai Ki und Yoga üben, das Unbewußte zur Problemlösung einspannen, formelhafte Vorsätze wiederholen...

Nach der ersten Woche fühlte ich mich großartig. Allein schon das Bewußtsein, ein so respektables Programm zur Förderung meines Wohlergehens arrangiert zu haben, erfüllte mich mit Genugtuung und Stolz. Der leichte Schwindel, der sich einstellte, war nicht der Rede wert.

Auch eine Woche später war alles in bester Ordnung. Ich absolvierte mein Programm mit Akribie. Die leichten Herzbeschwerden schrieb ich dem Föhn zu. Nach der dritten Woche mußte ich eine zusätzliche Kneippanwen- dung einschieben, um den immer häufiger auftretenden Migräneanfällen und dem hartnäckigen Gefühl der Niedergeschlagenheit zu Leibe zu rücken.

Aber das waren sicher nur Anpassungsschwierigkeiten. Mein Organismus ist diese gesundheitsfördernde Lebensweise einfach noch nicht gewöhnt. Wenn ich jetzt nach meinem Nervenzusammenbruch aus dem Spital entlassen werde, haben mich die Beruhigungsmittel und die künstliche Ernährung sicher wieder so weit auf die Beine gestellt, daß ich mein Programm wieder aufnehmen kann.

Und wenn es dann noch nicht klappt, dann weiß ich wenigstens, daß ich vierzig Jahre lang nichts versäumt habe.

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