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Lebenskrise als Chance

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Die ethische Dimension des Selbstmordes behandelten kürzlich zwei Autoren (FURCHE 42/1986), dieser Beitrag informiert über Selbstmordraten und Vorbeugung in Österreich.

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Die ethische Dimension des Selbstmordes behandelten kürzlich zwei Autoren (FURCHE 42/1986), dieser Beitrag informiert über Selbstmordraten und Vorbeugung in Österreich.

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Österreich hat seit langem eine sehr hohe und relativ konstante Suizidrate. Die Anzahl der Selbstmorde seit 1946 (für 1945 wird mit 4678 eine außerordentlich hohe Zahl angegeben) zeigt einen langsamen Anstieg von 1429 (1946) auf etwas über 2000 seit 1981. Dies entspricht einem Anstieg der Suizidrate (Selbstmorde auf 100.000 Personen) von 20 auf 25 in 40 Jahren. Die Zunahme beträgt bei den Frauen 13, bei den Männern 33 Prozent.

Betrachtet man lediglich die Suizidrate der jungen Menschen, findet man mit deutlichen Schwankungen ebenfalls eine Zunahme. Sie ist in erster Linie auf eine Zunahme der männlichen Suizide zurückzuführen, während die Suizidrate der jungen Frauen seit 1981 wieder zurückgeht (hier sind allerdings aufgrund der glücklicherweise sehr kleinen Absolutzahlen hohe Schwankungen festzustellen).

Während bis etwa 1970 die Suizidrate in Wien die höchste aller Bundesländer war, nimmt sie (mit einer geringen Steigung 1980) seit 1970 sehr langsam, jedoch kontinuierlich ab, während sie in den Bundesländern langsam, aber ebenso kontinuierlich steigt. Es hat sich also die Suizidrate in Wien der des übrigen Bundesgebietes in den letzten 15 Jahren stark angenähert, was vor allem auf die Zunahme der Suizidneigung der männlichen Bevölkerung außerhalb Wiens zurückzuführen ist. Es gibt aber zwischen den Suizidraten der Bundesländer konstant große Unterschiede (bis zu 100 Prozent, in den letzten Jahren wurden sie etwas geringer), ohne daß es dafür hinreichende Erklärungen gibt. Im Spitzenfeld liegen Kärnten, Niederösterreich und Steiermark, während Tirol und Vorarlberg die niedrigsten Selbstmordraten registrieren.

Eine deutliche Zunahme der Selbstmordneigung in höherem Alter gilt in erster Linie für die männliche Bevölkerung. Hier findet sich ein erster Gipfelwert bereits zwischen dem 20. und 25. Lebensjahr und verschiebt so das Durchschnittsalter der männlichen Selbstmörder etwas nach unten. Die Relation Männer zu Frauen ist in der Bundeshauptstadt drei zu zwei, im übrigen Bundesgebiet zwei zu eins.

Uber die Häufigkeit der Selbstmordversuche in ganz Österreich liegen keine Zahlen vor, und es gibt auch keine Möglichkeit, diese in größerem Umfang zu erheben. Man nimmt an, daß von den wahrscheinlich jährlich 20.000 Suizidversuchen etwa 6000 medizinische Behandlung erfahren. Jn Wien als dem einzigen Bundesland, das diese Zahlen erfaßt und veröffentlicht, werden seit vielen

Jahren rund tausend Versuche pro Jahr angegeben, die stationäre Hilfe in Anspruch nahmen.

Bereits in den späten zwanziger Jahren entstanden erste Ansätze prophylaktischer Aktivitäten, die nach dem Zweiten Weltkrieg wieder aufgenommen wurden, und besonders von Wien gingen zahlreiche Impulse, das Suizidproblem betreffend, aus.

1960 wurde in Wien die Internationale Vereinigung für Suizidprävention und Krisenintervention gegründet, 1977 das Kriseninterventionszentrum in Wien, dem weitere in den Bundesländern folgten, und Ende 1985 der österreichische Verein für Suizidprävention, Krisenintervention und Konfliktbewältigung. Die in anderen Bundesländern entstehenden Kriseninterventionszentren, Telefonnotrufe und Telefonseelsorgen konnten ein Bewußtsein dafür schaffen, daß es wichtig ist, Menschen in Not zur Verfügung zu stehen, so daß nun viele psychosoziale Einrichtungen und Beratungsstellen auch Krisenintervention betreiben und der Selbstmordgefährdung der von ihnen Betreuten Augenmerk schenken.

Die Betreuung von Personen nach Suizidversuch wird im gesamten Bundesgebiet sehr unterschiedlich gehandhabt, das reicht von praktisch keiner Betreuung bis zu gelegentlich unselektierten Uberbetreuungsangeboten. Es besteht jedoch eine gewisse Einigkeit darüber, daß eine gute Betreuung von Menschen mit Alkohol-, Drogen- und Medikamentenproblemen, eine umfassende psychosoziale Versorgung seelisch Kranker (insbesondere rückfällig und chronisch Kranker) sowie eine gute Altenbetreuung, die sich besonders auch der vereinsamten Menschen annimmt, vorbeugenden Effekt haben können.

Viele Menschen in Krisen können diese, nicht selten mit ihrer Umgebung, durchaus befriedigend bewältigen. Wichtig dafür ist jedoch einerseits, die Krise als das zu verstehen, was sie ist, als Chance für eine Änderung, und andererseits wahrzunehmen, wenn weitere Hilfe gebraucht wird — diese aber auch zu suchen und anzunehmen. Gerade, wenn wir manchmal das Gefühl haben, ganz verlassen und nur auf uns allein gestellt zu sein oder auf Gleichgültigkeit und Ablehnung zu stoßen, und wenn uns Kränkungen, Entmutigungen und Verzweiflung den Weg zu unseren Mitmenschen erschweren, sollten wir die zahlreichen Hilfsmöglichkeiten unserer Gesellschaft nicht unterschätzen und davon auch Gebrauch machen. Dies wird um so leichter fallen, je weniger jemand Krisen nicht als persönliches Versagen, sondern als notwendige Voraussetzung für einen neuen Anfang sieht.

Primarius Gernot Sonneck leitet das Kriseninterventionszentrum Wien 9., Spitalgasse 11, Telefon 439595.

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