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Lebensqualität - die neue Herrenmoral?

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Nachdenklich deklarierte selbst Richard Nixon seine Zweifel: „In den nächsten zehn Jahren werden wir unseren Lebensstandard um 50 v. H. erhöhen; die entscheidende Frage ist, ob wir dann wirklich 50 v. H. reicher und 50 v. H. glücklicher sein werden und ob es uns dann 50 v. H. besser gehen wird.“

Nun hat Ciceros These, Friede sei Freiheit in Ruhe, wohl nie “gestimmt, sondern ist es längst ebenso zitatenkundig, daß wunschloses Unglück und wunschlos Glücklichsein gleichermaßen Ausnahmezustände sind. Dagegen hilft keine Kulturkritik, wie sie etwa eine „Soziologie der Prosperität“ gerne voranstellt.

Armut ist heute, so wurde gesagt, weniger eine Sache des Magens als eine Sache der Seele (a state of mind); eine reine Sache des Magens ist sie freilich nie gewesen, solange von einer Kulturmenschheit die Rede sein kann. Bert Brecht würde wohl sagen: Zumindest nach dem “Fressen kommt die Moral. Daß der Mensch ein „Mängelwesen“ ist, besagt schließlich immer nur, daß er stets auf dem Weg zum großen Glück ist. Seit dem Vorherrschen marxistischer Lebensinterpretationen freilich hat es den Anschein, als wäre die Utopie einer letzten Bedürfnisbefriedigung lediglich eine postindustrielle Vision, während sie seinerzeit unter dem maßgeblichen Einfluß christlicher Sinngebungsinstanzen als postmortale Angelegenheit verstanden sein wollte.

Heute sagt man sich eben wieder, daß die Frage nach einem oder dem „lebenswerten Leben“ keine Frage der Wirtschafts-, sondern der Werttordnung ist.

Während aber einige Autoren zum Saldo gelangen, die Diskussion um die soziale Wohlfahrtsfunktion führe zur Einsicht, nämliche Qualität des Lebens könne nicht allgemeien gültig definiert werden, „glaubt“ die neue Linke sehr wohl, die wirklichen, echten Bedürfnisse feststellen zu können und damit eine selig(er) machende Antwort gefunden zu haben.

Robert Hepp („Der Umschlag in Lebensqualität“, Crlticön 1972) hat es unternommen, dem Schlagwort „Lebensqualität“ auf den Grund zu gehen. Er sieht darin eine Neuauflage von Benithams Formel vom größten Glück der größten Zahl, jedoch eine Neuauflage mit umfassender Kapazität.

Lebensqualität in der „Krebs-Strategie“ der SPD etwa, gelte als mehr denn höherer Lebensstandard, und zwar werde — etwa Erhard Eppler — die Leerformel als Alternative zur Quantität, an der man irre geworden sei, angesetzt. Es gilt damit plötzlich sozusagen als progressiv, am Fortschritt zu zweifeln, wobei, was wesentlich ist, insbesondere Wirtschaftswachstum als Indikator des Fortschritts abgelehnt wird. J. K. Gal-braith ist dafür der entscheidende Ideenspender, der Schlagwortmagier vom Dienst. Die närrische Produktion von „Zivilisationsplunder, wie sie mit einer in-flationsfördernden Technokratie zwangsläufig verbunden sei, ver-unmöglicht eine menschenfreundlichere Welt. Indes wird dann die Definition des Attributs „menschlicher“ vertrauensvoll in die Verfügung der herrschenden Arbeiterklasse gelegt, womit dann — Beispiel DDR — in bewährter Dialektik Qualität wieder in Quantität umschlägt: Wenigstens für die etablierte Linke hat das Leben dann Qualität, wenn es allen gleich gut geht.

Sicherlich hat es sich auch Nixons Vorgänger Abraham Lincoln zu leicht gemacht, wenn er einst deponierte, die meisten seien halt so glücklich, wie sie selber beschließen, zu sein. Die konkrete Frage, worin heute ein gutes Leben bestehe, hat aufgehört, eine Frage der individuellen Ethik zu sein, sie ist zur Grundfrage der Existenz der modernen technologischen Gesellschaft im ganzen geworden.

Präziser bleibt letztlich die „Frage, welche eigentlich die konkreten Inhalte sind, die Humanität auszeichnen sollen“. (Günther Rohrmoser, „Die Krise der Institutionen.“)

Hier freilich zeigt sich, daß die Bestimmung des Menschen auf der Grundlage des marxistischen Entfremdungsbegriffs, den selbst die quasi-empirische Anthropologie ontologisiert habe, immer formal bleibt, indem man davon ausgeht, der Mensch müsse erst selber die Bedingungen herstellen, kraft deren er als Mensch in der Welt da sein kann. — Diese For-malisierung, erkennt man hiermit, hat die „Konsequenz, daß nach der Humanität in der Gegenwart geradezu in der Form der Machtpolitik gefragt,, wird: wer ist in der Gegenwart berechtig, zu definieren, was der Mensch sein kann und was er sein soll?“ Hier aber gilt es nun innezuhalten: als Heilslehre rüttelt „Lebensqualität“ endgültig an der Originalität des einzelnen, wird nicht nur die Güte seines Lebens der kollektiven Definition anheimgestellt, sondern der Wert seines Lebens selbst, seine Lebensberechtigung schlechthin, von der „Gesellschaft“ fremdbestimmt.

Hier wird aus der Schlagwortpolitik ein totalitäres System. Hier geht es nicht mehr ,/nur“ um Steuerung der Güter, sondern um die Planung des Menschen.

Goethe etwa hat gemeint, das höchste Glück der Erdenkinder sei die Persönlichkeit. Er hat aber zugleich erkannt, daß Persönlichkeit ein immerwährendes Bemühen ist. Die Kräfte der Mitte stehen unter dem Zugzwang, ihre Wertordnung wieder ins Spiel zu bringen.

Gelingt es nicht, dies durch eigene Leistung und gemeinsame Bildung neu aufzurichten, sind wir die ersten Sklaven einer neuen Herrenmoral.

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