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Lebt alternativ!

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Ich war ja schon länger unsicher, ob mein ordentliches Leben, das ich so naiv vor mich hin führte, tatsächlich so in Ordnung war. Immer dieses Aufstehen am frühen Morgen - so gegen neun. Und dann der tägliche Gang zum Waschbecken und unter die Dusche. Dann das Eincremen und Besprühen, Vermummen in chemisch bearbeitete Textilien. Und dann erst das Frühstück: die rie-

sengroßen Eier mit der künstlich glatten, weißen Oberfläche, die knirschenden Brötchen aus unkritischen Grundstoffen, die lackglänzenden, riesengroßen Gelbäpfel, der nichtaromatisierte Tee und und und.

Ja, und den täglichen, quälenden Gang zu Schreibtisch, Bibliothek und Schreibmaschine nicht zu vergessen. Blieb da viel anderes übrig, als der allabendliche Trab in die nächste Bier- oder Weinstube, um dort mit Hilfe von industriell hergestellten und kapitalistisch verbreiteten Drogen Vergessen zu suchen? In meinen Lebensäpfeln war der Wurm drin! Und es wurde immer schlimmer!

Allmählich wurde es mir zu viel. Ich suchte in der Philosophie der Antike, bei den großen Moralisten der etablierten Religionen Rat; aber da war alles sor kompliziert, so verwirrend. Da vergaß ich eines Tages, nach den Spätnachrichten den Fernseher abzuschalten. So lernte ich endlich etwas vom wahren Leben kennen.

Zunächst wunderte ich mich etwas über die eigenartige Kostümierung des Vortragenden, der da abgefilmt wurde, aber bald schon nahmen mich seine Worte—sie erschienen, simultan übersetzt als Laufschrift am unteren Rande des Bildschirms—gefangen. Ja, da kam sie endlich, die erlösende Botschaft: „Genießt das Leben, es ist so kurz!“. Hatte also Erbonkel Reinbert mit seinen Wünschen zu meinem -zigsten Geburtstag doch recht?

„Seht doch ein, daß Ihr Euer schönes Geld auf der Bank nicht essen könnt!“ Wie wahr, wie wahr! Von dem wenigen auf meinem Sparkonto könnte ich freilich auch nicht satt werden, selbst wenn es eßbar und verdaubar wäre. /’

„Erfolg im Beruf kann Euch niemals glücklich machen!“. Richtig, richtig, das werde ich demnächst Cousin Erwin ins Stammbuch schreiben!

„Liebe ist schöner als Krieg!“ gurrte der Guru vom Bildschirm, dann schwenkte die Kamera über einen Trupp äußerst ansehnlicher jüngerer Jüngerinnen, und des Gurus Aufforderung traf meine allseits geöffneten Sinne: „Liebt Euch, liebt Euch“. Und dann war der Film aus, die Scheibe wieder matt—und ich wußte endlich, was ich zu tun hatte.

Ja, ich wollte mein allzu naives Leben durch ein alternatives ersetzen. Mutig tat ich den ersten Schritt - und ging nicht in die Kneipe, sondern nach einigen, noch etwas eckigen Freiübungen nach dem Muster, das ich eben im Film gesehen hatte, früh ins Bett.

Der nächste Morgen sah mich ungebrochen. Ich wollte nicht aufgeben, mein naives Leben lag weit hinter mir, ich würde es schon schaffen. Aber wie? Routinemäßig lief der Morgen ab, so kam ich auch am Zeitschriftenkiosk nicht vorbei. Welch Glücksfall: da stand es vor mir mit grüngrauem Druck auf graugrünem Papier — das „Altemativ-Maga- zin“. Ich erstand es, ohne auf den Preis zu schauen, setzte mich auf die nächste grüne Parkbank und begann zu schmökern.

Da erfuhr ich, daß wir nur eine Erde bekommen haben, daß die weißen Zivilisierten mehr Müll machen als die wilden Indianer, daß die amerikanische Lebensmittelindustrie unsere Lebensmittel durch Nahrungsmittel ersetzt und daß unser geplünderter Planet demnächst auch noch völlig zerstört würde, wenn—ja wenn ich nicht schleunigst einem Alter- nativ-Club beitreten und weiterhin das Alternativ-Magazin lesen würde.

Ich wollte, ich wollte! Mich interessierte die grüne Alternative zur weißen Selbstmordgesellschaft, die Entlarvung der Fortschrittsmythen. In der „Oase“ Rollte ich endlich lesen können, wie der Dritte Weltkrieg zu verhindern wäre, was Marx und Engels schon vor hundert Jahren zur ökologischen Szene in den achtziger Jahren unseres Jahrhunderts zu sagen wußten.

Das Buch „Verkehr in der Sackgasse“ wollte ich mir gleich kau

fen, meinen Kühlschrank, den mir die industrielle „Tiefkühlmafia“ eingeredet hatte, zum Heizofen umbauen. Für meine Neffen wollte ich als Weihnachtsgeschenk nicht nur das unterhaltsame „Klassenkampf-Spiel“, sondern auch das durch und durch grüne „Öko-Spiel“ bestellen.

Ich hatte das Alternativ-Maga- zin noch nicht zu Ende gelesen, da fiel ein grüner Bestellschein aus der Heftmitte heraus. Ich bestellte, was der grüne Stift hielt, zur baldigen Lieferung: Schallplatten mit aufsässigen Liedern, ein Liederbuch für uns Engagierte, das Totenbuch der Tibeter, die Alternativkataloge I bis III, ein Buch über Partnermassage und eines über die Sprache der Verrücktheit.

Ich füllte das Formular bis zur letzten Zeile aus, dann drehte ich es um: Was ich sah, kam mir so überaus vertraut vor - ein Relikt aus meinem nichtaltemativen, meinem naiven Leben! Ich sah einen Zahlschein, mit dem Eindruck einer großen Privatbank, mit Gutschriftsabschnitt, Empfangschein und Buchungsschein. Und darunter eine Lesezone für einen Computer, die sollte ich unbedingt von Beschriftung freihalten.

Meine erste, alternative Bestellung sollte also gleich einem Computer — vielleicht sogar einem amerikanischen — in die Taschen fallen! Da wurde mir grün vor den Augen und ganz, ganz alternativ im Magen!

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