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Leckes Schiff

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Michail Gorbatschow, der frischgekürte Träger des Frie­densnobelpreises, reist durch westliche Länder: Er braucht Hilfe, um den Frieden im ein­stigen Imperium UdSSR si­chern zu können. Ein Hunger­winter droht, Demonstrationen unzufriedener Bürger häufen sich. Dazu kommen die Natio­nalitätenkonflikte als latenter Sprengstoff. Zuletzt sind sie in Moldawien neu ausgebrochen. Minderheiten beginnen sich zu regen, von deren Existenz kaum jemand etwas wußte.

In Moldawien, in Aserbei-dschan und in Armenien hat die Zentralmacht längst die Kontrolle über die Entwicklung verloren. In der Ukraine kann der Prozeß der nationalen Gärung jederzeit in offene Rebellion umschlagen, und in Rußland lauert Boris Jelzin auf seine Chance.

Gorbatschow will demnächst versuchen, mit einem neuen föderalistischen Vertrag zwi­schen den Völkern der Sowjet­union kalmierend auf die sepa­ratistischen Tendenzen einzu­wirken, wobei die Ukraine, vor allem aber natürlich Rußland, das zentrale Problem ist.

Jüngst hielt sich der kirgisi­sche Schriftsteller und Gorba­tschow-Berater Tschingis Ait-matow in Graz auf und er sagte mir in einem Gespräch: „Ruß­land kann sich nicht abschlie­ßen und absondern, es muß eine integrierende Rolle für alle Kräfte spielen, die zusammen­bleiben wollen." Aitmatow gebrauchte für die Sowjetuni­on das Bild von einem großen lecken Schiff, das durch ge­meinsames Bemühen wieder seetüchtig gemacht werden müsse: „Es darf jetzt nicht je­der zu seinem eigenen kleinen Rettungsboot rennen."

An einem augenfälligen Bei­spiel zeigt sich, welche Aus­wirkungen die explosive Lage in der UdSSR auch auf die einstigen Satellitenstaaten hat: Weil die Sowjetunion West-Devisen notwendig braucht, ist sie nicht mehr bereit, preisgün­stiges Erdöl etwa in die CSFR oder nach Ungarn zu liefern. Eine erste Konsequenz zeigte sich dieser Tage in Ungarn, als die Regierung eine Benzin­preiserhöhung verfügte und rebellierende Taxler die junge Demokratie an den Rand einer Staatskrise brachten.

Nicht nur die Sowjetunion braucht Hilfe - auch die Staa­ten des einstigen Ostblocks sind bald auf wirtschaftliche Erfol­ge angewiesen, wenn die Bür­ger der neuen Freiheit nicht überdrüssig werden sollen. Die geringe Wahlbeteiligung bei den Kommunalwahlen in Un­garn war ein beunruhigendes Zeichen, das nicht ignoriert werden sollte.

Es besteht die Gefahr, daß es nach dem Aufbruch im Osten zu einem verhängnisvollen Rückschlag kommt: Weil die wirtschaftlich potenten Staa­ten des Westens zu sehr mit ihren eigenen Problemen be­schäftigt sind.

Am Persischen Golf zum Beispiel.

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