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Leerlauf im Fortschritt"

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Noch immer sieht man in Amtsstuben und an Hausmauern Algeriens das Konterfei des im Dezember 1978 verstorbenen Staatschefs Houari Boume-dienne häufiger als Abbildungen seines Nachfolgers Bendjedid Chadli. Dreizehn Jahre lang hat Boumedienne die Geschicke seines Landes bestimmt. Er hatte den Ehrgeiz, Algerien zur führenden Industrienation Nordafrikas zu machen.

Mit einem Investitionsanteil von 43 Prozent am Bruttosozialprodukt brachte er Algerien an die Spitze aller Entwicklungsländer. Eine günstige Ausgangslage boten die algerischen Erdöl- und Erdgasschätze; als Exporteur dieser begehrten Rohstoffe hat Algerien nicht nur wirtschaftlich, sondern auch politisch mehr Gewicht als die Nachbarländer Tunesien und Marokko.

Die Industrieländer fanden in Algerien einen Großabnehmer von Investitionsgütern, sie lieferten dem Land schlüsselfertige Fabriken gegen Petro-Dollars, darunter das erste Stahlwerk des Maghreb bei Anaba und die größte Erdgasverflüssigungsanlage der Welt bei Arzew.

Das im Jahre 1971 nationalisierte, qualitativ hochwertige algerische Erdöl erbringt gut 90 Prozent der Staatseinnahmen. Die Vorkommen in der Sahara werden allerdings spätestens in zwanzig Jahren erschöpft sein. Da ist es für die Algerier ein Trost, daß sie auf der größten Erdgasblase unseres Planeten sitzen.

Als Hauptabnehmer des algerischen Erdgases kommen die Nordamerikaner und Westeuropäer in Frage, es wird sich zum größten Teil nur im verflüssigten Zustand über das Mittelmeer und den Atlantik schaffen lassen. Bis 1984 sind Milliardeninvestitionen für Pipelines, Verflüssigungsanlagen an der Küste und für Tankschiffe vorgesehen.

Die Erdöleinnahmen vermögen nur einen Teil der Aufwendung für Indu? strieanlagen zu decken. Kein Wunder, da ß das hochverschuldete, devisenhungrige Algerien im OPEC-Kartell zu den eifrigsten Befürwortern drastischer öl-preiserhöhungen gehört.

Nach dem bitteren Unabhängigkeitskampf, in dem eine Million Algerier umkamen, hat der junge Staat im Jahre 1962 praktisch am Nullpunkt beginnen müssen. Zwar hatten die Franzosen, wie vor ihnen schon die Römer, aus ihrer nordafrikanischen Kolonie eine Kornkammer gemacht. Doch für die Ausbildung der Algerier hatten sie so gut wie nichts getan. Algerische Fachkräfte sind bis heute äußerst rar geblieben.

Nach dem Exodus von 800.000 Algerien-Franzosen versuchten einige tausend französische Cooperants, dazu Lehrkräfte aus arabischen Bruderländern, die enorme Bildungslücke zu schließen. Der kostenlose Schulbesuch und eine für Entwicklungsländer unverhältnismäßig hohe Einschulungsquote zählen neben der unentgeltlichen medizinischen Fürsorge zu den wesentlichen Errungenschaften dieses ausgesprochen jugendlichen Landes, in dem die Hälfte der 18,5 Millionen Bewohner noch keine 18 Jahre alt ist.

Freilich haben die Erziehungsanstrengungen bisher nur zu einer Halbbildung geführt. Nach wie vor ist Algerien in hohem Maße auf ausländische Fachkräfte angewiesen.

Das Ausbildungsdilemma hatte Boumedienne nicht davon abgehalten, der Industrialisierung oberste Priorität einzuräumen. Für den Ausbau der Landwirtschaft wird auch unter seinem Nachfolger Chadli verhältnismäßig wenig ausgegeben. Die Produktion auf den 9000 Staatsgütern stagniert, sie liegt teilweise unter dem Niveau von 1962, doch heute sind in Algerien doppelt so viele Münder zu füttern wie im Unabhängigkeitsjahr.

Ein Fünftel seiner Exporterlöse wendet Algerien auf, um Nahrungsmittel aus dem Ausland einzuführen, hauptsächlich Weizen, Milch und Fleisch. Andere Importe wurden massiv gedrosselt, für Konsumgüter des gehobenen Bedarfs werden Schwarzmarktpreise gezahlt. Versorgungsengpässe sind an der Tagesordnung, es gibt in den Geschäften weniger zu kaufen als in Tunesien und Marokko.

Bäuerlicher Privatbesitz darf im sozialistischen Algerien nur so groß sein,daß auf ihm das Lebensnotwendigste für die Familie erwirtschaftet werden kann. Vorrang hat das kollektive Prinzip, das in eintausend geplanten neuen Dörfern der „Agrarrevolution" seinen Ausdruck findet.

Ertragssteigerungen sind aber nur dort zu erwarten, wo sichdie Eigeninitiative entfallen kann. Die staatseigenen Betriebe dagegen bieten wenig Leistungsanreiz, hier bewirkt eine alles überlagernde Bürokratie viel Leerlauf und Gleichgültigkeit.

Die Hauptstadt Algier ist in knapp zwei Jahrzehnten von 600.000 auf zwei Millionen Einwohner gewachsen. Heiratsfähige junge Leute müssen jahrelang auf eine Wohnung warten, ausländischen Wohnungssuchenden werden horrende Preise abverlangt. Die Strom-und Wasserversorgung liegt im argen. Schäbigkeit, Unsauberkeit haben sich breitgemacht. Von Umweltschutz ist wenig zu spüren.

Ein Entwicklungsland wie Algerien hat aber auch andere Sorgen. Sein Hauptproblem ist die Massenarbeitslosigkeit, die Bevölkerungsexplosion. Nur jeder dritte Erwachsene hat einen festen Arbeitsplatz, rund 800.000 Algerier verdienen in Frankreich ihren Lebensunterhalt. In der Regel muß ein Verdiener für die ganze Familie sorgen.

Die Bevölkerung vermehrt sich jährlich um 3,5 Prozent. Von Familienplanung will das Regime nichts wissen.

Algerien möchte in zwanzig Jahren nachholen, wozu Europa zweihundert Jahre gebraucht hat. Aus dem Agrarstaat der Kolonialepoche soll eine moderne Industrienation werden. Die hastige Industrialisierung hat inzwischen gezeigt, daß der Fortschritt übers Knie gebrochen wurde. Einige Industrieprojekte wurden eingestellt, weil sie sich als Fehlplanung erwiesen haben.

Ein Großteil der für den Export bestimmten Produkte ist auf dem Weltmarkt nicht wettbewerbsfähig, vielfach wird am Bedarf des eigenen Landes vorbeiproduziert. Selten ist es damit getan, ein Traktorenwerk oder eine Elektronikfabrik schlüsselfertig hinzusetzen, sondern es bedarf einer gutorganisierten Zulieferindustrie zur Herstellung von Produkten „Made in Algeria".

Die tonangebenden Funktionäre der Staatspartei FLN verfahren derweil nach dem Grundsatz: moderne Technologie aus kapitalistischen Ländern, Ideologie aus dem Osten. Allerdings wird der atheistische Kommunismus abgelehnt.

Auf der Grundlage des Islam soll der „algerische Sozialismus" aufgebaut werden. Das heißt, nicht Marx, sondern Mohammed soll in Algerien das letzte Wort behalten.

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