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Lehren aus dem römischen Dokument

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Wertvoll könnte es auch sein, die Ermahnungen der Glaubenskongregation an die Adresse der Befreiungstheologen auf unsere Situation zu übertragen. Da ist zunächst die Warnung, daß Glaube durch Verwendung marxistischer Begriffe leicht zu einer marxistischen Ideologie entartet. Beschreibt man etwa den heutigen Zustand Lateinamerikas als eine Situation des Klassenkampfes, so fehlt nicht viel und man landet bei der marx'schen Lösung dieses Kampfes: der Vernichtung des Klassenfeindes.

Nur sollten wir uns selbst fragen, wie viele artfremde Begriffe in unserem Denken einen festen Platz eingenommen haben und unseren Glauben zu verfälschen drohen. Mir fällt in diesem Zusammenhang das juristische Denken ein. Wie viele Menschen werden doch hierzulande davon in Glaubensfragen geprägt! Sonntagsmessen, die rein aus Pflichtbewußtsein besucht werden, weil es ein entsprechendes Kirchengebot gibt (womit ich die Haltung und nicht den Meßbesuch in Frage stellen möchte); eine Unmenge menschlichen Elends infolge juristisch korrekter Eheverfahren; eine Verfahrensordnung, die Kardinälen, die Boff nach Rom begleiten, das Wort verbietet... Sind wir nicht in manchem einer juristischen Ideologie erlegen?

„In den Sozial- und Humanwissenschaften ist es wichtig, auf die Vielfalt der Methoden und Gesichtspunkte zu achten, von denen jede nur einen Aspekt einer Wirklichkeit hervorhebt...“ Das vatikanische Dokument weist damit zu Recht auf die Relativität der marxistischen Einsichten hin. Nur sollten auch wir uns die Frage gefallen lassen: Welche sozialwissenschaftlichen Einsichten haben denn eigentlich wir als absolut sicher geschluckt?

Zu diesem Problemkreis gehört vor allem unser harmloser Umgang mit den Selbstverständlichkeiten des westlichen Systems. Ich mag mich nicht in terminologische Spitzfindigkeiten verlieren, ob wir nun ein kapitalistisches System haben oder nicht. Jedenfalls sind für uns freie Konkurrenz, freies Unternehmertum, freie Preisbildung, freier Welthandel ebenso tabu wie Wertpluralismus, Mehrheitsbeschlüsse über alles und jedes, Medienfreiheit ...

Würden wir den Worten Jesu folgend all das nach seinen Früchten bewerten, wäre wohl mehr kritische Auseinandersetzung angebracht: Jährlich Millionen im Mutterleib getötete Kinder, Versuche mit Embryos, Rüstungsausgaben in Billionenhöhe, Gewalt und Pornographie um wenig Geld im Videoladen ...

Leonardo Boff fordert, die Kirche müsse prophetisch anklagen. Wir sind aber eher zahm, haben uns in unserer Umwelt eingerichtet. „Der Europäer leidet nicht unter dem Kapitalismus, er genießt ihn. Der Lateinamerikaner erleidet ihn“, stellt dazu ein Befreiungstheologe fest.

Der kolumbianische Kardinal Lopez Trujillo, ein Gegner der Befreiungstheologie, meint zur Frage des Systems: „Der Kapitalismus ... verhält sich permissiv und mischt sich nicht in religiöse Belange ein...“ Daher sei er harmloser als der Marxismus. Unser System ist großzügig, wo man es in Ruhe läßt. Es reagiert heftig, wenn die Kirche — wie in Lateinamerika — zu den katastrophalen Folgen nicht mehr schweigt. Das zeigen sowohl die zahlreichen US-Interventionen als auch die rund 1000 Märtyrer, die die lateinamerikanische Kirche in den siebziger Jahren zu beklagen hatte. Sie mahnen uns Wohlstandschristen, die konfliktorientierten Aspekte der Botschaft Christi nicht gänzlich zu vergessen.

Das führt uns zu einem letzten Punkt, dem Verhalten im Konflikt. Ein wichtiges Anliegen des römischen Dokuments ist die Warnung vor der Gewalt als Mittel der Befreiung. Es ist keine Frage, daß es in Lateinamerika Christen gibt, die Gewalt als legitimes Mittel ansehen. Eine Ordensschwester in El Salvador auf die Frage, ob man Feinde vernichten dürfe: „... Wenn man innerhalb dieses Prozesses töten muß, geschieht es nur, um das Volk zu verteidigen ... Ich sehe darin keinen Widerspruch zum christlichen Glauben ... Seltsamerweise empören sich die Katholiken über uns, die nie an den bewaffneten Streitkräften Anstoß genommen haben.“ (zitiert in „Christen für den Sozialismus“ 37/38)

Die Glaubenskongregation hat mit ihrer Sorge wegen der Gewaltanwendung recht, aber auch die Ordensschwester mit ihrem Vorwurf. Wie steht es mit unserer Haltung in Sachen Friedfertigkeit? Klingt die zitierte Rechtfertigung des Tötens nicht sehr ähnlich wie das, was die französischen Bischöfe zur Atomrüstung gesagt haben? „... man muß fragen, ob nicht die absolute Verdammung jedes Krieges die friedlichen Völker denen ausliefert, die eine Ideologie der Beherrschung vertreten ... Einseitige Abrüstung kann sogar die Aggressivität der Nachbarn herausfordern ... In einer Welt, in der der Mensch dem Menschen noch ein Wolf ist, kann die Wandlung zum Lamm eine Herausforderung des Wolfs darstellen.“ Die berechtigte Warnung vor der Gewalt gilt auch für uns. Wir sollten uns deutlicher dazu bekennen.

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