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Lehren aus einem „heißen Frieden“

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Was Militärexperten beider Blöcke in monatelanger Vorarbeit als Grundlage der nun beginnenden Gespräche um eine Reduzierung der Streitkräfte in Mitteleuropa erarbeiteten, scheint durch die politisch-militärische Entwicklung seit dem Ausbruch des vierten Nahostkrieges überholt zu sein.

Wie die gleichen Fachleute inzwischen erkannt haben mögen, lehrt dieser Waffengang nämlich, von anerkannten Prinzipien der Kriegstechnik abzurücken — der Situation im spanischen Bürgerkrieg nicht unähnlich. Beide Auseinandersetzungen boten einst und heute ein ideales Prüffeld: sowohl für politische Bindungen wie auch für die modernsten Waffenentwicklungen.

Der weltpolitische Alarm, den Washington mit der Mobilisierung seiner strategischen Reserven schlug, war nicht als Kriegsdrohung, sondern als Mittel zur Friedenserhaltung zu verstehen. Moskau und Washington gehen mit solchen Aktionen zwar bis an den äußersten Rand der Erpressung, im Kern ihrer politischen Handlungsweise besteht heute aber größere Übereinstimmung als je zuvor. Was der amerikanische Außenminister Kissinger als den „heißen Frieden“ definiert, erlebte seine praxisnahe“ Erprobung im Nahen Osten. Das Eingreifen der beiden Schutzmächte in die Auseinandersetzung zwischen Arabern und Israelis erfolgte im klassischen Takt.

Übertragen auf die Situation in Europa, scheint dieses Modell — oberflächlich gesehen — nicht zu passen. Die Ausgangsposition beider Lager ist auf den ersten Blick zu ungleich. Sie ist durch eine grobe Asymmetrie eines Ost-West-Kräftegefälles gekennzeichnet. Dieses hat sowohl quantitative wie auch qualitative Aspekte. Die geographische Asymmetrie, die der atlantische Partner der NATO, die USA, im Gegensatz zur Sowjetunion zu überwinden hat, muß ebenso in Rechnung gestellt werden wie die unterschiedliche strategische Konzeption.

Und hier hat der Nahostkrieg Lehren erbracht, die vor allem der Westen bei den MBFR-Gesprächen nicht unbedacht lassen kann. Der arabische Angriff am Kanal und auf den Golan-Höhen hat gezeigt, daß es in einem modernen Krieg nur schwer möglich ist, nach einem Überraschungsschlag das Gesetz des Handelns wieder an sich zu reißen. Hier ähnelt die militärische Aktion dem Spiel der kühlen Denker am Schachbrett. Der Eröffnungszug hat erhebliche Auswirkungen auf den Verlauf der Partie. Und die Israelis spürten noch in der zweiten Woche der Auseinandersetzung den Nachteil ihrer verspäteten Mobilisierung.

Die NATO-Verteidigung steht nun unter der strategischen Konzeption der sogenannten „Flexible response“ — der elastisch abgestimmten militärischen Antwort. Die westliche Allianz verzichtet damit auf die Offensive und stellt sich freiwillig in die gleiche Lage, in die sich am 6. Oktober erstmals Israel stellte. Diese unbestrittene Schwäche der NATO wurde bisher einigermaßen durch eine relativ hohe Präsenz der Bodentruppen und der Luftstreitkräfte der Allianz ausgeglichen. Doch die Reformen auf dem Gebiet der Wehrstruktur, die nun einige NATO-Staaten planen, dürften unweigerlich die bisherige Abwehrbereitschaft

schwächen. (Ein ähnlicher Vorgang war auch im Zug der österreichischen Heeresreform festzustellen.) Israel, mit einer kleiner Kaderarmee und einem großen Reserveheer, galt durch die beispielhafte Mobilmachung als Vorbild einer gemischten Wehrstruktur von Bereitschaftsverbänden und einer Miliztruppe. Man kann sich nun plastisch vorstellen, in welchen Aktionsverzug eine Truppe gerät, die nicht gewohnt ist, wie die Israelis, in einem latenten Spannungszustand zu leben.

Der Krieg im Nahen Osten hat weiters einer breiten Öffentlichkeit bewußt gemacht, wie sich sowjetische Taktik und Ausbildungsmetho-den und der Einsatz des modernsten östlichen Rüstungsgerätes auf dem Schlachtfeld auswirken. Was am Moldaustausee und an der Donau unterhalb von Preßburg (also in unmittelbarer Nachbarschaft Österreichs und sicher nicht ohne Zielrichtung) vor nicht allzu langer Zeit von den Lehrmeistern geübt wurde, fand am Suezkanal seine Bewährung — das sowjetische Brückengerät. Es gab kaum ein sowjetisches Großmanöver der letzten Jahre, bei dem der Flußübergang — meist direkt aus der Bewegung — nicht ein wesentliches Element des Übungsvorhabens gewesen wäre. Dieses Brückengerät führen natürlich auch sämtliche Verbände des Warschauer-Paktes bei ihren Panzerspitzen mit.

Eine weitere bittere Lehre mußten die Israelis durch die Panzerabwehrwaffen sowjetischen Ursprungs hinnehmen; ihre simple Bedienung war geradezu ideal auf den nach wie vor nicht hohen technischen Standard der arabischen Soldaten abgestimmt.

Während die Debatte um das fehlende Gleichgewicht in Europa bisher mit einem Zahlenwust über Divisionen, also Mannschaftsstärken, Stärkenachweisen von Panzern und Flugzeugen geführt wurde, drängt sich durch Sinai und den Golan ein bisher unterschätztes Element der Kriegführung auf: die elektronischen Waffen.

Ist also auf der Skala der militärischen Machtmittel manche Verschiebung eingetreten — und zwar nicht zugunsten des Westens —, hat der Konflikt zwischen den Klienten der Supermächte auch politische Gewichte verschoben.

Die arabische Erdölpression traf, obwohl in erster Linie gegen die USA gerichtet, die Supermacht weniger als deren europäische Verbündete. Die Versuche der amerikanischen Führung, die Waffenluftbrücke nach Israel durch Ausschöpfung von Lagerbeständen in Europa zu beschleunigen, stieß auf beharrlichen Widerstand der NATO-Partner. Henry Kissinger reagierte ziemlich sauer. Er warf den Europäern vor, die Erdölängste über die Bündnistreue gestellt zu haben. Und der ständige Kleinkrieg, den das Weiße Haus sowohl mit seinen Verbündeten wie auch mit dem Senat über die Stationierung von Truppen in Europa führt, drängt Washington geradezu auf, auch bei den Truppenabbaugesprächen die bewährte Zusammenarbeit mit dem zweiten Machtgiganten zu suchen. Vielleicht führt diese Gleichgewichtsformel zwischen Washington und Moskau früher als erwartet zu einem Durchbruch in Wien?

Die Verlierer sind dann jedenfalls eindeutig und endgültig die Westeuropäer.

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