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Lehrer, Theoretiker, Politiker
Am 5. September jährt sich der Geburtstag Otto Bauers zum 100. Male. Er war einer der führenden Politiker in der Ersten Republik und ein bedeutender Sozialwissenschaftler. Vor allem war er ein großer Lehrer.
Am 5. September jährt sich der Geburtstag Otto Bauers zum 100. Male. Er war einer der führenden Politiker in der Ersten Republik und ein bedeutender Sozialwissenschaftler. Vor allem war er ein großer Lehrer.
Als Sozialwissenschaftler hat Otto Bauer zur Entwicklung des Austromarxismus beigetragen, der einzigen politischen Alternative zum Leninismus in der Entwicklung und in der politischen Anwendung der Lehren von Karl Marx.
Während Lenins Version des Marxismus in einem institutionalisiertem Dogma erstarrt ist, öffnete die austro- marxistische Pflege des Gedankenguts von Karl Marx den Weg für Ergänzungen und Revisionen im Lichte von neuen Erkenntnissen und Erfahrungen. Eine solche Ergänzung des Mar-, xismus erschien in Otto Bauers erstem sozialwissenschaftlichen Werk, „Die
Nationalitätenfrage und die Sozialdemokratie“, im Jahr 1907.
Karl Marx hatte sich nämlich mit der Nationalitätenfrage überhaupt nicht befaßt, denn er betrachtete Fragen kultureller Identität und die Probleme des kulturellen Pluralismus als unbedeutende Aspekte des gesellschaftlichen Überbaus, die von der ökonomischen Basis her bestimmt werden. Auch Otto Bauer erwartete übrigens, daß diese Probleme eines Tages gemeinsam mit dem Kapitalismus überwunden werden. Hier trübte marxistische Theorie seinen Blick.
Die für den Austromarxismus charakteristische Synthese von Marxismus mit demokratischer Tagespolitik ist auch heute von Bedeutung wo immer demokratische Sozialisten und Eurokommunisten marxistische Zielsetzungen im Rahmen einer ehrlich gemeinten Teilnahme an parlamentarischer Politik verfolgen.
Vor allem die italienischen Kommunisten sind sich im Zusammenhang mit dem .historischen Kompromiß' ihrer Verwandtschaft mit dem Austromarxismus bewußt und befassen sich derzeit intensiv mit den Werken Otto Bauers.
Otto Bauer wurde zum politischen Führer aufgrund seines Wirkens als Lehrer. Er hatte die Gabe, verborgene Talente in kurzen Begegnungen zu erkennen und diese als Lehrer zu fördern. Solche Entdeckungen erfolgten bisweilen aufgrund einfacher kritischer Fragen in Massenversammlungen, nach denen Otto Bauer die Fragesteller zu einer zwanglosen Unterhaltung einlud, um sie dann in die von ihm geleitete Parteischule einzugliedern.
Als Lehrer förderte Otto Bauer kritisches und unabhängiges Denken. Er wollte keine starren Dogmen eintrichtern und nichts lag ihm ferner, als blinde Gefolgschaft zu motivieren. Statt dessen motivierte er Bildungshunger und förderte Aufgeschlossenheit.
Aus seiner Parteischulung gingen die Funktionäre und Vertrauensmänner der österreichischen Sozialdemokratie und der österreichischen Arbei
terbewegung hervor. Auf ihrer Loyalität beruhte die Autorität Otto Bauers in seiner Partei. Die für den Austromarxismus so charakteristischen offenen Diskussionen mit freier Meinungsäußerung immunisierte die österreichische Arbeiterschaft gegen den Nationalsozialismus und den Kommunismus. Otto Bauers Lehrtätigkeit hat zu dieser Immunisierung beigetragen.
Otto Bauers Lehrtätigkeit war, wie gesagt, der Ausgangspunkt für seine Führerrolle in der Politik. Hier aber hat er versagt. Sein Versagen als Politiker geht zum Teil zurück auf eine gewisse Unvereinbarlichkeit der Arbeit des Wissenschaftlers mit den Aufgaben des Politikers. In den Worten von Norbert Wiener, dem Vater der Kybernetik:
„Der Wissenschaftler konfrontiert in seiner Arbeit einen augustinischen oder passiven Teufel; der Politiker, wie auch der Schachspieler und der Stratege, konfrontiert einen mani- chäischen Teufel in der Form eines aktiven Gegenspielers.“
Die Aufgabe des Wissenschaftlers ist ähnlich der Aufgabe des Mannes, der einen Schlüssel sucht. Dieser mag schwer zu finden sein, aber er macht nichts um den Sucher zu frustrieren.
Der Politiker dagegen konfrontiert eigenwillige und aktive Gegenspieler. Seine Aufgabe ist daher eher vergleichbar mit der eines Detektivs, der einen Übeltäter sucht. Dieser Um
stand erklärt, warum routinierte Tarockspieler in der Politik meistens erfolgreicher sind als Wissenschaftler.
Otto Bauers Temperament als Theoretiker, der für die politische Praxis unzureichend qualifiziert ist, erscheint konkret in seinem oft zitierten Ausspruch:
„Besser den falschen Weg vereint gehen, als sich wegen der Frage des Weges zu spalten. Fehler können korrigiert werden, aber eine Spaltung kann unheilbar sein.“
Die Ansicht, daß Fehler ohne weiteres korrigierbar sind, ist jedoch nur in der wissenschaftlichen Forschung gültig. Dort werden aus Fehlern und Irrtümern oft fruchtbare Ansätze für wissenschaftliche Entdeckungen. Alle Entdeckungen und auch alle Erfindungen entstehen aus korrigierten Irrtümern. In der Politik wie auch beim Kartenspiel gilt dies jedoch nicht Hier heißt es: Was liegt, das pickt.
Hier können Fehler nicht ohne weiteres korrigiert werden.
Alle Menschen sind fehlbar und machen Fehler. Die Fehler und Irrtümer von Technikern und Wissenschaftlern können, wie gesagt, Korrekturen anregen, die dem technischen und dem wissenschaftlichen Fortschritt dienen. Die Fehler von Politikern sind jedoch meistens nicht korrigierbar. Man kann jedoch von diesen Fehlern lernen.
Ein Studium der Fehler, die Otto Bauer im Lauf der Zeit begangen hat, ist besonders lehrreich. Seine Fehler sollten vor allem alle warnen, die versucht sind, politische Entscheidungen aufgrund von Formeln zu treffen, die von abstrakten Theorien abgeleitet worden sind. Eine solche Entscheidung war die Ablehnung des Koalitionsangebots von Dr. Seipel im Frühjahr 1931.
Zur Bewältigung der wirtschaftlichen und politischen Probleme, welche im Frühjahr 1931 die junge und schwer geprüfte Republik konfrontierten, wollte Seipel eine Koalitionsregierung mit allen im Parlament vertretenen demokratischen Parteien bilden. (Nur der faschistische „Heimatblock“ die Partei der Heimwehren, war nicht zur Teilnahme an dieser Koalition eingeladen worden. Die Heimwehr war zu dieser Zeit in einem Zustand des Zerfalls, da sich die Anhänger Hitlers und die Mussolinis voneinander trennten.)
Am Parteitag der Sozialdemokraten im Oktober 1931 begründete Otto Bauer die sozialdemokratische Ablehnung des Koalitionsangebots ausschließlich mit einer marxistischen Interpretation der geschichtlichen Entwicklung. Diese Interpretation hat sich seither als völlig unsinnig erwiesen, denn die marxistische Theorie, auf die sich Otto Bauer berief, war auf die wirtschaftlichen Aspekte der Krise beschränkt und ließ politische Aspekte der Krisensituation überhaupt aus.
Diese ausschließlich ideologisch motivierte Ablehnung des Koalitionsangebots hat die gemäßigten, demokratisch gesinnten Politiker in den beiden anderen Lagern, dem „schwarzen“ wie dem „blauen“, mehr oder weniger ausgeschaltet. Die Weichen für die bald darauf aufkommende extreme Tripolarisierung waren gestellt. Dieser Fehler war nicht mehr korrigierbar.
Landtags- und Gemeinderatswahlen, die am 24. April 1932 stattfanden, zeigten, daß die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei zur drittstärksten Partei Österreichs geworden war. Im Sinne der marxistisch begründeten Koalitionsablehnung am vorhergehenden Parteitag forderte nun Otto Bauer die Auflösung des Parlaments und Neuwahlen, da, wie Otto Bauer es ausdrückte, das Parlament nicht mehr die Wählerschaft vertrete.
Gleichzeitig bekräftigte Otto Bauer, daß die Sozialdemokraten nicht bereit waren, in eine Koalitionsregierung einzutreten. Das stellte die Christlich-Sozialen vor folgende Alternative: Eine Koalition mit den Nationalsozialisten, oder eine mit den. fünf Parlamentsmitgliedern des Heimatblocks, die nicht zu den Nationalsozialisten übergegangen waren. Otto Bauers Politik ließ keine dritte Möglichkeit offen.
Otto Bauers Schriften und die Texte seiner Reden sind in neun Bänden zugänglich und liefern wertvolle Einsichten in die Zeit, in der er lehrte und wirkte. Das Studium seiner Schriften erfordert jedoch den kritischen Geist, den er selber als Lehrer gefördert hat.
Im Widerspruch zu diesem kritischen Geist wird jetzt versucht, aus Otto Bauer einen Säulenheiligen zu machen. So wurde in diesem Sinne vorgeschlagen, neuerlich in den Kategorien von Otto Bauer zu denken, die bereits vor einem halben Jahrhundert zu verhängnisvollen Fehlentscheidungen geführt haben. Derartige Empfehlungen kommen vor allem von epigonenhaften Verehrern Otto Bauers, deren Uhren vor einem halben Jahrhundert stehen geblieben sind.
Otto Bauer, der große Lehrer und kritische Denker, war sich jedoch seiner Fehlbarkeit bewußt und war jederzeit bereit, seine Ansichten wie seine Politik zur Debatte zu stellen. Eine kritiklose Verehrung wäre daher ganz und gar nicht in seinem Sinn. Dem Lehrer und Denker Otto Bauer wird daher eine Kritik des Politikers Otto Bauer am ehesten gerecht.
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