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Der Dominikaner Stephan Pfürtner, seit Juli 1971 Ordinarius für Moraltheologie an der Theologischen Fakultät der Universität Fribourg (Schweiz), hat in Bern vor einem großen Publikum im Rahmen einer, wie man dies früher nannte, „Volksmission“ einen Vortrag gehalten mit dem Thema: „Moral — was gilt heute noch? Das Beispiel der Sexualmoral.“ Der Vortrag, auf Grund der Tonbandaufnahme photomechanisch vervielfältigt, ohne Schwierigkeit bei der „Progressio 71“ in Bern zu erhalten und niemals als unecht widerrufen, muß als authentisch gelten, wenngleich er in der angekündigten Druckausgabe vielleicht Änderungen aufweisen wird. Bischof Pierre Mamie von Fribourg, vor seiner Ernennung zum Bischof selbst Professor an der Theologischen Fakultät, hat den Berner Text studiert. Schon zuvor war er auf die Orientierung Pfürtners aufmerksam geworden durch einen in der „Freiburger Zeitschrift für Philosophie und Theologie“ veröffentlichten Artikel (18. Bd., 1971, 334 bis 365). Dort vertrat Pfürtner bereits die im Berner Vortrag etwas weiter ausgeführte These der sittlichen Erlaubtheit des Geschlechtsverkehrs vor der Ehe.

Die Presse warf dem Bischof von Fribourg vor, er habe sich in die Angelegenheiten einer anderen Diözese eingemischt (Bern liegt im Bistum Basel). Dieser Vorwurf ist haltlos. Einmal nämlich besuchen die Theologen des Fribourger Bistums die Universität, an der Pfürtner tätig ist, und schon durch diese Tatsache steht dem Bischof ein Wort zur Lehrtätigkeit an der Theologischen Fakultät zu; zum anderen verpflichtet der Can. 1381 2 des kanonischen Rechts — in der kürzlich publizierten kirchlichen Studienordnung erneut unterstrichen — den Ortsbischof, einzugreifen, wenn in einer Unterrichtsstätte seiner Diözese etwas „gegen den Glauben und die guten Sitten“ vorgetragen wird.

Rom greift ein

Bischof Mamie war der Überzeugung, daß in dieser Sexualmoral ein eindeutiger Widerspruch zur Morallehre der Kirche vorliege. Um sich eine größere Sicherheit zu verschaffen, wandte er sich privat an den Sekretär der Glaubenskongregation in Rom, Paul Philippe OP. Die Antwort kam dann direkt vom Präfekten der Glaubenskongregation, Kardinal Franjo Seper: „Die Kongregation hat festgestellt, daß gar kein Zweifel darüber besteht, daß die von Pater Pfürtner vorgebrachten Ideen sehr gefährlich sind und völlig im Widerspruch zur katholischen Lehre stehen. Ich bitte Sie deshalb im Namen dieser Kongregation, P. Pfürtner darauf hinzuweisen, daß seine Ideen unannehmbar sind, und ihn zu veranlassen, sie öffentlich zu widerrufen.“

Bevor Bischof Mamie diese Antwort erhalten hatte, traf bereits der Ordensgeneral der Dominikaner, Aniceto Fernandez, in Fribourg ein. Nach langen unergiebigen Dialogen kam es zu der Vereinbarung zwischen dem Ordensgeneral und Pfürtner, wonach Pfürtner um ein „Sabbathjahr“ nachsuchen sollte, Währenddessen die anstehenden Fragen geklärt werden könnten.

In der gesamten Diskussion wurde von Pfürtner immer wieder auf die Lehrfreiheit hingewiesen. Zusätzlich wurden größte Bedenken geäußert gegen den Eingriff römischer Instanzen.

Zunächst aber kann man an keiner Fakultät von absoluter Lehrfreiheit sprechen. Jeder Dozent steht in einer Rechtsordnung, die er respektieren muß, über die er sich auf keinen Fall in destruktiver Weise äußern darf. Bei einer etwaigen Kritik an der bestehenden Ordnung muß man allerdings unterscheiden zwischen Äußerungen gegen die Substanz und den Bestand einer Gemeinschaft und der Modalität, mit welcher solche Äußerungen vorgebracht werden.

Die Lehrfreiheit hat ihre festen Grenzen, wenngleich diese manchmal nicht leicht kontrollierbar sind. Grundsätzlich aber kann man die Überschreitung dieser Grenzen kontrollieren. Dem Staat steht dann das Interventionsrecht zu, sobald in tendenziöser Weise die Rechtsordnung bedroht wird.

Die theologischen Fakultäten sind nun, wenngleich an den staatlichen Universitäten bestehend, in doktrinärer Hinsicht den Kirchen unterworfen. Direkte Aussagen gegen die Grundlehren der Kirche oder Aussagen, die durch ihre Modalität, in der sie vorgetragen werden, einen respektlosen Angriff gegen vielleicht nicht absolut gültige, aber bisher als gültig anerkannte theologische Lehren bedeuten, stehen nicht im Schutz der Lehrfreiheit eines Professors der Theologie.

Bei der Gründung der internationalen katholischen Universität Fribourg, die eine staatliche, dem Kanton Fribourg gehörende Universität ist, wurde die Lehraufsicht über die Theologische Fakultät dem Generalmagister der Dominikaner übertragen. Der Kanton Fribourg hatte nämlich in einer als privatrechtlich geltenden Abmachung mit dem Dominikanerorden vereinbart, daß dieser für die Besetzung der theologischen Lehrstühle, mit Ordensangehörigen sorge.

Schweizer Pressestimmen haben sich nun in heftiger Weise gegen eine solche Bindung an Rom geäußert. Will jedoch eine Theologische Fakultät Universitätsgrade (Lizentiat und Doktorat) erteilen, die überall in der Welt als päpstlich gültige Grade gelten sollen, dann muß sie sich den Studienvorschriften der römischen Studienkongregation fügen. Die Lehraufsicht könnte vom Ortsbischof ausgeübt werden; die Internationalität der Theologischen Fakultät von Fribourg verlangte gewissermaßen die direkte Unterstellung unter die doktrinäre Obhut einer römischen Behörde. Für den Schutz der theologischen Lehrfreiheit an 'die sogenannten staatlichen „Grundrechte“ zu appellieren, käme einer völligen Säkularisierung der theologischen Fakultäten gleich.

Direkte Aussagen, die einer bis heute einheitlich vorgetragenen Lehre der Kirche widersprechen, müssen als substantieller Eingriff in das Lehrgebäude der Kirche bezeichnet werden. Ob ein solcher Eingriff im Fall Pfürtner vorliegt, sei hier nicht diskutiert. Offenbar haben Bischof Mamie wie auch die Glaubenskongregation jedoch in der unzweideutigen Verteidigung des vorehelichen Geschlechtsverkehrs durch Pfürtner einen Einbruch in die unbestrittene Lehrtradition deir Kirche gesehen. Aber darauf kommt es meines Erachtens nicht an.

Hätte Pfürtner seine Ansicht in wissenschaftlicher Weise unterbaut, hätte er mit einem gewissen Respekt gegenüber der bisherigen Lehre gesprochen, dann hätte niemand so empörten Anstoß genommen.

Waghalsige Neuerungen können nicht in die Lehrfreiheit eines Theologieprofessors gehören. Dem Bischof bleiben dann nur zwei Möglichkeiten: entweder zieht er seine Theologen aus der Fakultät zurück oder er schreitet gegen den Professor ein.

Pfürtners Konzeption theologischer Lehrfreiheit hat dogmatische Hintergründe. Es geht schließlich um die Auffassung Pfürtners von der Struktur des kirchlichen Lehramtes, besonders der Unfehlbarkeit des Papstes.

Bezüglich des Zweiten Vatikanischen Konzils (Konstitution über die Kirche Nr. 25) behauptet Pfürtner („Christ sein — Mensch sein“, Seite 46): „Es ist das Unfehlbarkeitscharisma der ganzen Kirche, an dem er (der Papst) partizipiert...“ In diesem Sinne müsse das „aus sich selbst“ des Ersten Vatikanums interpretiert werden. Pfürtner hat offenbar übersehen, daß in der gleichen Nummer der Konstitution des Zweiten Vatikanischen Konzils über die Kirche das „Aus-sich-Selbst“ nochmals eigens wiederholt wird. Um des wissenschaftlichen Ernstes willen hätte er zumindest erklären müssen, warum er eine Neuinterpretation oder gar eine Umkehrung jenes Terminus („aus sich selbst“) des Ersten Vatikanums vornimmt.

Von „Partizipation“ zu sprechen, führt mindestens zu fundamentalen Mißverständnissen. Die Umkehrung des „Aus-sich-Selbst“ in eine reine Partizipation der Unfehlbarkeit des obersten Lehramtes winkt sich natürlich auf die Struktur der Kirche in ganz eigener Weise aus. Man gelangt sozusagen mit zwingender Notwendigkeit zur These von der Demokratisierung der Kirche im Sinne der politischen Demokratie und zur Gewaltententeilung, wie sie in der Staatswissenschaft üblich ist. Tatsächlich versteht Pfürtner die Struktur der Kirche in diesem Sinne.

Die Gewaltenteilung wird in der Kirche immer bei der Autorität des Papstes enden. Dies besagt natürlich nichts gegen die Forderung — und darin hat Pfürtner ohne Zweifel recht —, daß die Rechtsbildung, Rechtsfindung und auch Rechtsentscheidung der Willkür möglichst entzogen werden muß.

Die Ausdrucksweise Pfürtners erzeugt durch ihren rein kirchenkritischen Ton den Eindruck, als ob nun die Kirche als „Volk Gottes“ im konkreten Vollzug eine Demokratie sei. Das ist sie nicht und das kann sie nie werden, wenn man mit der Lehre der Vatikanischen Konzilien Ernst macht.

Worauf es mir ankommt, ist dies: es gibt, abgesehen von der dogmatischen Kontrolle einer Aussage, eine Kontrolle des theologisch-wissenschaftlichen Arbeitens., Es geht darum, ob ein Autor sich bewußt ist, daß Zukunftsprogramme und Vorschläge zur „Umstrukturierung“ der Kirche nur auf der Grundlage eines ausgedehnten Wissens und auch dann nur mit dem nötigen Respekt vor der Tradition vorgetragen werden dürfen.

Die biologischen und psychoanalytischen Forschungsresultate haben ohne Zweifel eine Rückwirkung auf die moralische Bewertung sexueller Vorgänge und Handlungen. Es steht aber zur Frage, ob diese empirischen Erkenntnisse die bisherige Moral von der Ehe als dem einzig sittlich zu verantwortenden Ort des Sexualverkehrs umzuwerfen imstande sind.

Bisher ist im kirchlichen Lehramt, in der gesamten Tradition von einer Öffnung des Sexualverkehrs in den außerehelichen Bereich nirgendwo ein Ansatz zu finden. Pfürtner macht also hier einen Vorstoß, den er nur mit höchstem wissenschaftlichem Ethos machen darf. Das Mittel seiner Argumentation besteht in einer Umdeutung der sittlichen Norm, die einzig auf die Person und ihre individuelle Verfaßtheit zugeschnitten, nur von diesem subjektiven Boden aus überhaupt erst Norm sei. Pfürtner muß also die gesamte Tradition von universal gültigen Normen, die er als „legalistische“ Normen ansieht, abtun.

Es fällt zunächst auf, daß die gesamte Argumentation überhaupt jeder theologischen Diskussion entbehrt. Die Erbsünde existiert nicht mehr. Die Kreuzestheologie wird vom Tisch gewischt, obwohl Pfürtner als Theologe wissen müßte, daß sie eine nicht unbedeutende Rolle in der Ehe spielt. Er erklärt einfach: „Die Idee des .Kreuzes' und der .Opferbereitschaft' zur Versagung hier einzuführen, ist theologisch sehr fragwürdig.“

Doch sehen wir einmal von diesen theologischen Mängeln ab. Pfürtner zitiert eine Anzahl von Thomas-Texten, uim seine neue Lehre von der Norm her zu untermauern und als traditionell haltbare Lehre hinzustellen. Er erklärt im Anschluß an Summa Theol. I—II 94, 1, das natürliche Sittengesetz sei etwas, was durch die Vernunft „gesetzt“ sei. Im Lateinischen steht wirklich „constitutum“.

Pfürtner hätte aber doch notieren müssen, daß die sittliche Norm durch die Vernunft als ein am Sein orientiertes, also immer auch „ablesendes“ Erkenntnisorgan aufgestellt wird.

Gesetz der Liebe

Die kommentarlose Übersetzung von „constitutum“ mit „gesetzt“ ist irreführend, allerdings nicht für Pfürtner, denn er braucht dieses „Gesetzt“ für seine Theorie. Dann spricht er mit Verweis auf Summa Theol. I—II, 71, 6 und 106, 1 und 2 vom „Gesetz der Liebe“, und zwar in dem Sinn, daß die Liebe mit der Vernunft zusammen Norm sei. So wird in der Folge immer wiederholt, die Norm sei „Vernunft und Liebe“.

Wenn man von der Vernunft als Norm spricht, dann versteht man darunter das psychische Organ, mit welchem die Werte erkannt und postuliert werden. Wenn man von Liebe als Norm spricht, dann meint man einen Wert, auf den die Vernunft, vorab die im Glauben erhöhte Vernunft, zu achten hat. Der Begriff „Norm“ ist also völlig verschieden, je nachdem er auf Vernunft oder auf Liebe angewandt wird. Thomas von Aquin hätte diese Verwechslung niemals vorgenommen.

Im Zusammenhang mit Summa Theol. II—II, 47, 2 Zu 1 spricht Pfürtner vom „gesamthaft guten und glücklichen Leiben“, auf das sich „Vernunft und Liebe“ richten. Der lateinische Ausdruck lautet: „Totum bene vivere“, wie ihn Pfürtner richtig anführt, aber völlig umgeschicht-lich interpretiert. Hätte Pfürtner die entsprechende Stelle bei Aristoteles, auf den Thomas sich bezieht, berücksichtigt, dann hätte er feststellen müssen, daß das „Totum bene vivere“ finalen Charakter hat, das heißt sich auf das endgültige Leben bezieht und darum keineswegs situationsbedingt ausgelegt werden darf. Auf jeden Fall hat Thomas mit seiner auf die Transzendenz ausgerichteten Moral vom „Totum bene vivere“ nur im Sinne des Endzustandes denken können.

Mit Verweis auf Summa Theol. I—II, 71, 6 zitiert Pfürtner wörtlich: „Die menschliche Vernunft ist erster Bemessungsgrund alles sittlichen Tuns.“ An der Stelle steht ausdrücklich, daß die Vernunft die nächste und homogene Norm, das ewige Gesetz aber erste Regel sei. Hier ermöglicht wahrscheinlich erst die Verkürzung der Aussage Pfürtners Interpretation vom „Totum bene vivere“. Ohne eine solche Verkürzung wäre der Text in Summa Theol. l—ll, 94, 4 verständlicher geworden.

Massive Vorwürfe

Ich ' kann hier auf diesen ohne Zweifel schwierigen Artikel nicht eingehen. Pfürtner hätte aber zumindest den Schluß des zitierten Thomas-Textes nicht auslassen dürfen, wo Thomas (im Zusammenhang mit der „Räubermoral“ der alten Germanen) ausdrücklich erklärt, daß das Sittengesetz mit seiner Forderung dennoch bestehen bleibt, selbst wenn ein einzelner Mensch es nicht erkennt.

Die von Pfürtner zitierte Stelle aus dem IV. Buch des Sentenzienkommentars (33, 1, 2) ist aus dem historischen Zusammenhang gerissen. Man darf sich bei einer solchen lückenhaften Zitierweise und Interpretationsmethode nicht wundern, wenn Kritiker erklären, es handle sich hier entweder um Pfuscherei, Scharlatanerie oder Fälschung.

Die Wirkung unter den Studenten erregt Besorgnis. Der Jurastudent Hubert Münst erklärt unbedenklich: „Wir glauben sagen zu dürfen, daß wir voreheliche Sexualität voll und ganz bejahen, sie nicht etwa als ein akzeptables Übel oder als Konzession an die menschliche Schwäche betrachten, sondern als den wunderbarsten Ausdruck der Zuneigung und Liebe, welcher in die enge Freundschaft zwischen Mann und Frau hineingehört ... Und da wir — ich spreche als Katholik —, da wir alle .Kirche' sind, wird sich auch die Hierarchie mit der Zeit zu einem pluralistischeren Denken durchringen müssen.“

Dieser Boulevardtext erschien im „Spektrum“ vom 17. Dezember 1971, der Zeitung der Fribourger Studenten, die von allen immatrikulierten Studenten zusammen mit der Immatrikulationsgebühr bezahlt werden muß.

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