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Leidenschaftlicher Perfektionist

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Es gibt keine rätselhaftere Figur in der Galerie der neueren Komponisten als die Maurice Ravels. Jeder Versuch, zwischen seiner Musik, dieser raffinierten, bald aufpeitschenden, bald dämonischen, bald sinnlich-kitzelnden Nervenkunst und den bekannten Tatsachen seines Lebens eine Verbindung herzustellen, mündet in Ratlosigkeit. Je mehr man das Phänomen beobachtet, je gründlicher man die Studien liest, die Freunde und Schüler über ihn veröffentlicht haben, desto fester wird man in der Überzeugung, das Wesentliche an diesem Manne entziehe sich dem Licht. Kaum glaubt man einen Generalnenner für Leben und Werk gefunden zu haben, so wird man in unlösbare Widersprüche verwickelt, die einen noch mehr verwirren.

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Es gibt keine rätselhaftere Figur in der Galerie der neueren Komponisten als die Maurice Ravels. Jeder Versuch, zwischen seiner Musik, dieser raffinierten, bald aufpeitschenden, bald dämonischen, bald sinnlich-kitzelnden Nervenkunst und den bekannten Tatsachen seines Lebens eine Verbindung herzustellen, mündet in Ratlosigkeit. Je mehr man das Phänomen beobachtet, je gründlicher man die Studien liest, die Freunde und Schüler über ihn veröffentlicht haben, desto fester wird man in der Überzeugung, das Wesentliche an diesem Manne entziehe sich dem Licht. Kaum glaubt man einen Generalnenner für Leben und Werk gefunden zu haben, so wird man in unlösbare Widersprüche verwickelt, die einen noch mehr verwirren.

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So französisch Geistesart und Kunst Ravels wirken, sein Blut war aus ungleichen Quellen gemischt. Von dem Vater Pierre Joseph Ravel, der Zivilingenieur und ein genialer Erfinder war, bekommt er die Eigenschaften eines „Schweizer Uhrmachers“ mit, wie Igor Strawinsky einmal witzig formulierte. Von der Mutter stammen spanische und baskische Einflüsse, unter denen Ravels Kindheit stehen wird. Zwar hat er Ciboure an der französischen Atlantikküste — nicht weit von Biarritz —, wo er am 7. März 1875 geboren ist, bald verlassen, da seine Eltern nach Paris zogen. Aber die baskischen Kinderlieder, die seine Mutter ihm sang, vergaß er nie, und Spanien ist so etwas wie seine zweite künstlerische Heimat gewesen.

Musikalische Begabung zeigt sich früh; mit sieben Jahren bekommt Maurice Klavierunterricht, mit vierzehn wird er ins Conservatoire aufgenommen. Obwohl er nie großen Fleiß beim Üben entwickelt, gibt man ihm 1891 eine Medaille für sein Klavierspiel. Damals entstehen die ersten Kompositionen. Erik Satie und Emmanuel Chabrier gewinnen Einfluß auf ihn. 1895 schreibt er die Habanera, einen langsamen, in zweierlei Rhythmen wiegenden Tanz, den er später in die „Spanische Rhapsodie“ aufgenommen hat. Das Stück hat den jungen Claude Debussy so stark beeindruckt, daß sich ein genauer Reflex davon in seinen „Soirees dans Grenade“ findet. Ein paar Jahre danach kommt Ravel in die strenge Kontrapunktschule Andrė Gėdalges und in die künstlerisch hochgespannte Atmosphäre der Kompositionsklasse Gabriel Faurės.

Obwohl die Eigenart seiner Begabung ebenso wie sein verblüffendes technisches Können in Stücken wie der „Pavane pour une infante dėfunte“, in den „Jeux d’eaux“, in den „Scheherazade“-Liedern und dem Streichquartett, lauter Arbeiten der Jahre 1899 bis 1903, unverkennbar sind, versagt man Ravel die akademische Anerkennung. Nach den mißglückten Rompreis-Wettbewer- ben entstand ein Meisterwerk nach dem anderen. Mit den „Miroirs“,

fünf Stücken, die über Listz hinaus einen neuen virtuosen Klavierstil entwickeln, ist Ravels sensueller und exzentrischer Klang ganz reif und markant geworden. Die Naturstimmen in den „Oiseaux tristes“, die verschwimmenden Harmonien in der „Vallėe des cloches“, die spanischen Rhythmen und Gitarre-Melodien der „Alborada del gracioso“ zeigen es; bald danach folgt in der Sonatine ein ganz anderer, viel einfacherer Klavierstil, ein dreisätziger Formzyklus, der völlig aus einem einzigen Motiv abgeleitet wird.

Ravel war ein leidenschaftlicher, immer aufnahmebereiter Natur freund. Er liebte stundenlange Spaziergänge, gab für seinen Garten in Montfort-Lamory mit den japanischen Zwergbäumen und allerlei seltenen Blumen ein Vermögen aus. Vor allem liebte er Tiere. Siam- Katzen mit hellbraunem Seidenfell und veilchenfarbenen Augen waren seine liebsten Hausgenossen; auf einer seiner letzten Reisen, die er als schwerkranker Mann unternahm, fühlte er sich in einem marokkanischen Hause am wohlsten, nicht etwa wegen der herbeigerufenen europäischen Ärzte, sondern weil ein Dutzend Katzen und zwanzig Turteltauben ihn als ihren Liebhaber erkannten, um ihn schnurrten und gurrten. Von solcher Tierliebe erzählt ein Liederheft, das Ravel 1906 auf Texte von Jules Renard komponiert hat: die „Histoires Naturelles“. Es sind fünf Tiergeschichten, ironisch-vermenschlichende Schilderungen aus dem Leben des Pfaus, der Grille, des Schwanes, des Eisvogels und des grotesken Perlhuhns, das grundlos auf dem Hof herumzankt, den Truthahn ins Hinterteil pickt, sich im Staube wälzt und hinausrast, um irgendwo auf dem Feld sein Ei zu legen.

Gelingt es einem, Zutritt in das Innere des Ravel-Hauses in Montfort-Lamory zu bekommen, so kann man allerlei Merkwürdiges sehen. Die kleinen Zimmer, durch enge Korridore verbunden, sind mit zum Teil winzigen Stühlen und wunderlichen Gegenständen möbliert. Ravel, so raffiniert in seinem musikalischen Geschmack, hat eine Vorliebe für pittoresken Kitsch und eine Schwärmerei für mechanische Spielzeuge und Automaten gehabt. So findet man Nippes-Sachen von zweifelhaftem Geschmack, falsches chinesisches Kunstgewerbe, ein kleines Porzellanklavier, eine mechanische Puppe unter einer Glasglocke, eine künstliche Nachtigall, die flöten und mit den Flügeln schlagen kann. Lange Zeit hing an der Wand ein gefälschter Renoir, und Ravel hatte eine koboldhafte Freude daran, wenn Besucher das schlechte Bild bewunderten und nicht als Fälschung erkannten. Auch spanische und baskische Dinge stehen und hängen in dem Haus, wie denn die Neigung zum Kitsch wohl durch Eindrücke des baskischen Kunstgewerbes in Ravel geweckt worden ist. Iberische Motive haben auf die Phantasie vieler französischer Musiker anregend gewirkt. Chabriers „Espana“, Bizets „Carmen“, die „Iberia“ und einige Preludes von Debussy sind die berühmtesten Zeugnisse dafür. In Ravels Schaffen bringt das Jahr 1907 eine Häufung von spanischen Themen mit den vier Sätzen der „Rhapsodie Espagnole“ und seinem erfolgreichsten dramatischen Werk, der Oper „L’Heure Espagnole“. Der Text, nach einem Lustspiel von Franc-Nohain, ist eine freche Ehebruchskomödie, deren Heldin, ironischerweise Concepcion genannt, von einem Dichter und einem Bankier enttäuscht, sich mit einem muskelstarken Maultiertreiber tröstet, bis ihr Mann zurückkommt.

Als man Ravel in Marokko vorschlug, er solle doch arabische Anregungen für ein Werk verwenden, antwortete er: „Schriebe ich je so etwas, so wäre es arabischer als das alles hier!“ So ist auch „L’Heure Espagnole“ spanischer als viele iberische Originalmusik, eine Art Quintessenz andalusischen Musikgeistes und obendrein ein höchst seltsames Dokument Ravelscher Maschinenliebe. Die Szene ist ein Uhrenladen, wo allerlei Spielwerk sein buntlärmendes Wesen treibt, das große und das kleine Glockenspiel, der Trompeter, die Spieldosenfigur mit der As-Dur-Melodie, das Hähnchen und der Kanarienvogel.

Ravel lebte gern in Märchenvorstellungen. Wir wissen, daß er Kinder zärtlich geliebt hat und ihre Gesellschaft der von Erwachsenen manchmal vorzog. Für Kinderhände ist 1908 die erste Fassung eines seiner reizvollsten Werke geschrieben, die Märchensuite „Ma mėre l’oye“; er widmete sie der Tochter und dem Sohn des ihm befreundeten Ehepaares Godebski. Es sind die Märchen von Dornröschen, vom Däumling, von der Pagodenkaiserin, vom Liebespaar La Belle et la Bete und vom Feengarten. Jedem der Stücke, die er später für Orchester gesetzt hat, legt Ravel eine einfache musikalische Grundidee unter, die Fünftöneskala der Chinesen, die weißen Tasten, den Kontrast von zierlichen hohen und plumpen tiefen Tönen.

Märchenton, doch in einer romantischen Verbindung mit Unwirklichkeit und festlichem Schmerz, herrscht auch in den „Vaisęs nobles et sentimentales“, die Ravel 1911 für Klavier komponiert hat. Wie er hier den Geist des Schubertschen Walzers mit den gewagtesten Klangkombinationen des Klaviers vermählt, schmachtende Ländler mit verwirrend bitonalen Akkorden, das ist nur von ihm selbst acht Jahre später in der choreographischen Orchesterdichtung „La Valse“ übertroffen worden. Es gibt kaum ein Werk Ravels, das hinter geschliffener Eleganz so viel unterdrückte Tragik verbirgt wie dieses Walzerbukett. Alles Leid eines nicht gelebten Lebens, einer Jugend, die sich in der Schule nach Idealen verzehrt, lebt in den Stücken.

An den geistigen Spannungen der Jahre vor dem Ersten Weltkrieg war Ravel stark beteiligt. Seine Musik hatte die Grenzen der Tonart mehrfach überschritten, und in den 1913, zum Teil bei seinem Freunde Strawinsky in Clärens am Genfer See komponierten Mallarmė-Liedem kam er der freien Atonalität Schönbergs nahe. Während des Krieges, den Ravel trotz seiner sehr kleinen Gestalt und schwachen Gesundheit als Freiwilliger mitmacht, trifft ihn als schwerer Schmerz der Tod der Mutter. In diesen Jahren richtet er, ähnlich wie Debussy, den Blick auf Formen der Vergangenheit. Die große Suite, die er „Tombeau de Couperin“ nennt, ist in Wahrheit eine Sammlung von Epitaphen für seine gefallenen Freunde. Tragik und Schmerz sind in diesen Tänzen sublimiert; die Welt der Formen triumphiert über die der Vergänglichkeit.

Damals begann, langsam und kaum bemerkt, ein Verfall in Ravels Gesundheit. Er litt unter Schlaflosigkeit, die er mit stärksten Mitteln nicht überwinden konnte. Bis zum Morgengrauen saß er in Montfort- Lamory an seinem kleinen Schreibtisch vor dem winzigen, mit Perlmutt eingelegten Notenständer, dem blattförmigen Radiermesser und den vielen Drehbleistiften. Hier und bei sommerlichen Aufenthalten in Saint- Jean-de-Luz entstehen die ungleichen, aus vielerlei geistigen Quellen gespeisten Werke des letzten Schaffensjahrzehnts, das 1932 mit den Don-Quixote-Liedern endet. Hier schreibt Ravel die Kinderoper nach Colettes Text, hier die erotisch exotischen „Chansons Madėcasses“, hier das instrumentale Beleuchtungswunder des „Bolėro“.

In der viersätzigen Duosonate für Geige und Violoncello, die diese Epoche einleitet, ist alles Linie, Kontrapunkt, harte Parallelführung von Tonarten. Ravel selbst meint dazu: „Der Verzicht auf alles nicht Notwendige ist hier auf die Spitze getrieben.“ Um die selbe Zeit findet er, vielleicht unter dem Einfluß Jean Cocteaus, Gefallen an den amerikanischen Jazzkapellen, die Paris mit ihren harten Klängen und synkopierten Rhythmen beunruhigen. „L’Enfant et les Sortileges“ verarbeitet diese Eindrücke in einem Foxtrott-Duett; die virtuose Sonate für Violine und Klavier enthält als langsamen Satz einen Blues.

Und der Mensch Ravel, sein Privatleben? „Wir Freunde haben immer vor einem Rätsel gestanden, was sein Gefühlsleben betraf“, bekennt in vertrautem Gespräch D. E. Inghelbrecht. Der lebhafte alte Herr, Dirigent und Komponist von Ruf, war um-1900 in den Freundeskreis um den Maler Paul Sordes, die Künstlergesellschaft der „Apaches“, getreten. Lėon-Paul Fargue, Dichter und Journalist, hat das Coenaculum geschildert, dem als treuster Kamerad der kleine, elegante, damals noch bärtige Ravel angehörte.

„Es hat in Ravels Leben“, führt Inghelbrecht fort, „keine Frau gegeben, aber auch keinen Mann“. Ja, der gesellige, in nächtlichen Gesprächen unermüdliche Musiker, dessen freundschaftliche Widmungen auf einen Riesenkreis von Gefährten und Freundinnen schließen lassen, hat kaum einen Vertrauten gehabt, der die letzten Geheimnisse seines Lebens mit ihm geteilt hätte. Wer ihn kannte, spricht von der großen Distanziertheit, die er auch den nächsten Menschen seines Lebenskreises zeigte. Es war, als verberge er Eigenschaften oder Veranlagungen, die ihn bedrückten. Ravels Musik, so glatt an ihrer Oberfläche, ist tragische Musik, ein Werk von so mänadisch-festlichem Charakter wie „La Valse“ dämonische Kirnst. Er suchte seine apokalyptischen Visionen vor Freunden zu verstecken, wie er die Konterfeie ihrer Fratzen hinter dem Geschmeide von Präzisionsformen verbarg.

Kein Zweifel, daß bei Ravel ein Zwiespalt von Wunsch und Wirklichkeit bestanden hat. Er war körperlich fast ein Zwerg mit einem edel geformten großen Kopf. Seine übertriebene Sorgfalt im Anzug (er nahm 1928 auf seine Amerikareise fünfzig Hemden mit) zeigt, wie er bemüht war, Mängel zu verschleiern. Gab es noch andere Mängel als den verkümmerten Wuchs? Roland-Manuel, Verfasser grundlegender Bücher über Ravel und vertrautester seiner Freunde, bestreitet es. Doch zugleich bestreitet er einigen Damen das Recht, sich intimer Beziehungen zu dem Komponisten zu rühmen. Ravel, so meint er, habe als junger Mensch gelegentliche Beziehungen zu professionellen Liebhaberinnen unterhalten, was auch von Brahms behauptet wird, der nie eine seiner bürgerlichen Freundinnen berührt hat.

Vielleicht liefern die Bühnenwerke den Schlüssel zu diesen Mysterien in den Kasematten seiner Seele? Dem starken Maultiertreiber gehört die „Spanische Stunde“; mach dir nichts vor, Künstler, in der Wirklichkeit zählt nur die physische Kraft! In „L’Enfant et les Sortileges“ steht der kleine, unartige, von Destruktionsbetrieb beherrschte Junge im Kampf gegen die Umwelt. Colettes Libretto schreibt vor, daß mächtige Möbel die Kleinheit des Missetäters hervorheben, den im Traum seine Opfer bedrohen, den sein Mitleid mit einem Eichhörnchen erlöst.

Ein Wesensmerkmal der Ravel- schen Musik ist ihre Hautsinnlichkeit, ihre Paarungs-Besessenheit. Sie ist klanggewordener Eros wie kaum noch eine andere. Die Wirkung des „Bolėro“, rnusikalisch-künstlerisch kaum motiviert, stammt aus der Sphäre, wo Musik, Exorzismus und Sexus benachbart sind. Lieder wie die „Chansons Madėcasses“ gehören mit ihrer exotischen Glut zur großen Liebeslyrik der modernen Welt.

Ravel hat wohl zeitlebens an der Diskrepanz zwischen seinem Maß und dem der übrigen Welt gelitten. Diese Kluft durch Perfektion der künstlerischen Formen zu überwinden, war immer wieder für ihn ein schöpferisches Stimulans. Was das Leben ihm versagt hatte, dafür schuf er sich ein zweites Leben in seiner Musik. Die Kunst war, wie so vielen anderen, auch ihm ein Surrogat für das nicht Gelebte.

War die Arbeit getan, so kümmerte sie ihn nicht mehr; Ravel hat nie an den Hörer, an das Publikum gedacht. Er war einsam und wollte die Einsamkeit, trotz aller geselligen Freuden. Diesem hermetisch zurückgezogenen Mann und gänzlich Kryptogamen schenkte das Schicksal einen Erfolg der sieghaften Sinnlichkeit. Mit dem „Bolėro“ hat Ravel erotisch das Publikum der Welt erobert.

Sein Leben mündet grauenhaft im Nichts. Das schleichende Gehirnleiden, das seinem Erlöschen führte, schaltete manche seiner geistigen und körperlichen Funktionen zunehmend aus. Von 1932 bis zu seinem Tode 1937 hat Ravel nichts mehr geschrieben. Dabei blieb er noch lange, vor allem auf den beiden Reisen mit seinem Freund Leo Leyritz, dem Bildhauer, ein heiterer, zu Geselligkeit und Gespräch aufgelegter Mann, der die Reize Spaniens und Nordafrikas mit wachen Sinnen genoß. Die Wurzel seiner Krankheit blieb unentdeckt. Als im Dezember 1937 der Himchirurg Clovis Vincent den großen Schädel öffnete, fand er ein Gehirn von normalem Aussehen, dessen Windungen nicht geschwächt waren. Acht Tage nach der Operation lag Ravel friedlich schlafend. Am 28. Dezember hörte sein Herz zu schlagen auf. „Ich hätte noch so viel Musik zu schreiben“, war einer seiner letzten Sätze.

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