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Digital In Arbeit

Leinen als gemeinsames Erlebnis

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„Das Wichtigste ist, daß wir das Anderssein akzeptieren lernen”, meint Volksschullehrerin Ursula Prader nach der Unterrichtsvorfüh-rung in der 3. b. Integrationsklasse Wien-Penzing, Mondweg 73-83. Knaben und Mädchen mit unterschiedlichen Lernvoraussetzungen waren bei gemeinsamer Arbeit zu beobachten gewesen. Schüler mit sozialer Behinderung, mit Erbkrankheiten wie Mongolismus lernen seit der ersten Schulstufe gemeinsam mit solchen, die dem Durchschnitt entsprechen.

Um es gleich zu Beginn zu sagen: Das Experiment in der Schule am Mondweg funktioniert durch die Harmonie, die zwischen der Lehrerin Ursula Prader und der Sonderschullehrerin Brigitte Hofbauer besteht. Mindestens dreimal die Woche besprechen sie außerhalb der Dienstzeit, mit welchen Maßnahmen und Hilfen die Entwicklung der Klasse gefördert werden kann.

Theoretisches Konzept für die Wissensvermittlung ist das hand-lungsorientierte Lernen, das lebenspraktische Lernen mit Betonung des erzieherischen Aspekts: Kinder werden selbständig und übernehmen Aufgaben.

Aber auch das autonome Lernen in heterogenen Kleingruppen ist wichtig, bekanntlich lernen Kinder von Kindern am besten. Trauriges Beispiel sind meist die unglücklichen Eltern, die stets das Gefühl haben, nur Unsinnigkeiten ließen sich ohne weiteres von einem Kind auf das andere wie Schnupfen übertragen.

In einer Klasse, in der die Voraussetzungen der einzelnen Kinder so unterschiedlich sind, können

„normal” entwickelte Kinder lernen, wie man mit Behinderungen anderer umgeht, ohne im bevormundenden Mitleid zu enden.

Auch die Formen unterschiedlicher Aggressionskontrolle lassen sich erfahren: Ein Kind kam mit schwersten Verhaltensstörungen in die Schule, ungezügelte Wutausbrüche stellten eine Bedrohung für die anderen Kinder dar. Die Lehrerinnen vermochten den anderen Kindern zu verdeutlichen, daß die körperlichen Benachteiligung (ein stark vermindertes Körperwachstum) ein schwer zu ertragendes Problem darstellt. Kompensieren läßt sich der Defekt durch individuelle Anerkennung.

Das wird in der Klasse besonders gefördert, indem die einzelnen Kinder die Ergebnisse ihrer Arbeit der Gemeinschaft vorstellen. Die Leistungsmotivation erfolgt nicht durch das Messen am Erfolg der anderen, sondern durch die Anerkennung durch die anderen Kinder: Der individuelle Lernerfolg steht im Vordergrund.

Lernen wird also mehr als bloße Wissensaufnahme, es wird zu einem gesellschaftlichen Erlebnis, das als Ziel im Hintergrund nicht nur den gebildeten, sondern auch den solidarischen Menschen hat.

Das Erlemen von gesellschaftlichen Mechanismen, das aus einem extrem aggressiven Knaben einen lebhaften Lausbuben macht, bedingt eine Veränderung der einzelnen Kinder. Der Sonderfall wird zum Auslöser für eine lebenswichtige Entwicklung. Für die Schüler, die in Sonderschulen abgeschoben würden, bedeutet die Integration in eine Klasse mit „normalen” Kindern den ungemeinen Vorteil, daß sie unentwegt die Chance zur Entwicklung geboten bekommen. Zwar ist mit der Tatsache, daß ein Sonderschulkind zwischen spitzen und stumpfen Winkeln unterscheiden kann, noch nicht viel für die Entwicklung gewonnen, doch die

Möglichkeit besteht, daß ein Zugang zum Innersten des Kindes gefunden wurde, der ein Leben lang für ein breiteres Verständnis der Welt sorgen kann. Das bedeutet, die Abhängigkeit des Kindes und später des Erwachsenen von wohlmeinenden Stellen wird geringer.

Die letzten beiden Wochen hatten sich die Kinder mit Reinigungsmitteln beschäftigt. Anhand von Rollenspielen im Rahmen eines Fernsehers wurde ihnen klar, mit welchen Tricks die Werbung den Menschen zu beeinflussen sucht. Einfache häusliche Tätigkeiten wie Saugen, Kehren, Fensterputzen gehörten ebenso zu dem Programm wie das Darstellen der eigenen Tätigkeit innerhalb der eigenen Familie. So mancher mag erkannt haben, daß seine Mitwirkung zu Hause nicht der Rede wert ist.

Integration ist möglich

Wichtig ist immer wieder die Übersetzung der verrichteten Tätigkeit in Sprache. Erkenntnisse müssen sinnvoll und frei formuliert werden könnnen. Mit welcher Selbstverständlichkeit die Kinder ihre Tätigkeit in Sprache übersetzen, wie sie das Gesehene tatsächlich auf den Punkt bringen können, mag jeden faszinieren, der von der Hemmung weiß, die jemanden „befällt”, wenn er öffentlich agiert.

Diese Wiener Integrationsklasse ist der beste Beweis, daß eine funktionierende Gemeinschaft in der Lage ist, einige Behinderte nicht nur mitzutragen, sondern zu integrieren. Zum Nutzen für alle. Wenn der Glaube an die machbare und gelebte Solidarität der Menschen nicht aussterben soll, bedarf es mutiger Lehrer, deren Engagement gar nicht genügend gewürdigt werden kann.

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