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Leistungen und Fehlleistungen

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Österreich ist nicht nur Heimat großer Söhne, sondern auch Wiege politischer Ideologien von weltweiter Bedeutung. Hierher gehört die Synthese von revolutionärer Zielsetzung mit prinzipientreuer Teilnahme an reformistischer demokratischer Tagespolitik. Diese einzigartige Synthese, weltweit als Austro-Marxismus bekannt, geht auf das Werk Viktor Adlers zurück.

Als Armenarzt hat er erkannt, daß die notleidenden Arbeiter nicht Wohltätigkeit benötigen, sondern wirksame Interessenvertretung. Dabei sah er sich drei Gruppierungen gegenüber: Zur Linken Revolutionäre, die sich nach einer herrschaftsfreien und klassenlosen Gesellschaft sehnten; zur Rechten Gemäßigte, die Reformen durchsetzen wollten; dazwischen die große Masse, die in hoffnungsloser Resignation dem Alkohol verfallen war, was ihre Not zwar verschärfte, aber immer wieder vergessen ließ.

Viktor Adlers größte humanitäre und politische Leistung beruhte auf dem Zurückdrängen dieses Hedonismus. Mit seiner Mahnung: „Der trinkende Mensch denkt nicht und der denkende Mensch trinkt nicht“ reformierte und aktivierte er den am meisten degradierten Teil der Arbeiterschaf t. Damit hat Viktor Adler einen Beitrag zur Moral der Arbeiterschaft und damit auch für Österreich geleistet. Das wird oft übersehen, denn dieser Beitrag war unkontroversiell und daher undramatisch.

Uberaus kontroversiell und daher dramatisch ist dagegen die geniale Synthese von radikaler Phraseologie mit reformistischer Politik. So heißt es im Programm von Hainfeld vom 31. Dezember 1888: „Ohne sich über den Wert des Parlamentarismus, einer Form der modernen Klassenherrschaft, zu täuschen, wird sie (die Sozialdemokratie) das gleiche und direkte Wahlrecht ohne Unterschied des Geschlechts für alle Vertretungkörper mit Diätenbezug anstreben, als eines der wich-. tigsten Mittel der Agitation und Organisation.“

Die marxistische Abwertung der parlamentarischen Demokratie stellte die Radikalen zufrieden, während die Durchsetzung des allgemeinen Wahlrechts erwünschte Reformen ermöglichte. Diese widersprüchliche Synthese festigt die Demokratie, solange der radikale Flügel die Partei stärkt, ohne daß dadurch die Tagespolitik beeinflußt wird. Die Einigkeit der Arbeiterschaft in der Sozialdemokratie hat tatsächlich deren wirksame Interessenvertretung ermöglicht. Außerdem hat der Internationalismus der Partei zur Völkerverständigung innerhalb und außerhalb der Donaumonarchie beigetragen.

Ihre Teilnahme an der Politik in der Donaumonarchie hat die Sozialdemokratie auf ihren Beitrag zu verantwortungsvoller Politik in der Republik vorbereitet. So ist es vor allem der Verankerung der Arbeiterschaft in der Sozialdemokratie zu danken, daß Osterreich im Jahr 1919 die bolschewistischen Aufstände erspart geblieben sind, die in Bayern und in Ungarn viel Unheil angerichtet haben.

Die einzigartige Einheit der österreichischen Arbeiterschaft in ihrer Partei war zwar von Viktor Adlers Synthese von radikaler Phraseologie mit reformistischer Tagespolitik eingeleitet worden, aber erhalten blieb diese Einheit nicht dank dieser widersprüchlichen Synthese, sondern dank politischer, wirtschaftlicher und kultureller Errungenschaften, welche diese Einheit ermöglicht hatte. So vermittelte der Arbeiterbildungsverein neben politischem Verständnis auch allgemeine Bildung.

Die „Freien Gewerkschaften“, eng verbunden der Partei, vertraten die Interessen und Anliegen der Arbeitnehmer. Die daraus entstehenden Konflikte und Spannungen führten letzten Endes zu einem beiderseitigen Verständnis zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern, welches schließlich zur Institution der Sozialpartnerschaft geführt hat. Ohne diese wäre der Wiederaufbau nach 1945 kaum denkbar gewesen.

Demokratisch gesinnte Politiker aller Parteien haben es möglich gemacht, daß in der Ersten

Republik die Demokratie unter besonders ungünstigen Bedingungen 15 Jahre funktioniert hat. Im Rahmen dieser Zusammenarbeit ist die Grundlage für die Demokratie der Zweiten Republik gelegt worden. Hier ist insbesondere die Verfassung vom Herbst 1929 zu erwähnen, die unter schwierigsten Bedingungen im Schatten von Bürgerkriegsgefahr von Politikern aller Parteien ausgearbeitet worden ist, und die seit 1945 der Republik neuerlich als Grundgesetz dient.

Versöhnlichkeit gegenüber der Sozialdemokratie bei antisozialdemokratischen Politikern in den Jahren 1933/34 erscheint als Anerkennung der Mitarbeit der Sozialdemokratie an der Verfassungsreform von 1929, ihrer Zustimmung zur Sanierung der Credit-Anstalt im krisenhaften Frühjahr 1931 sowie ihres verantwortungsvollen Verhaltens in anderen krisenhaften Situationen.

Außerdem setzte sich die Erkenntnis durch, daß die schrek-kenerregende marxistische revolutionäre Rhetorik nicht ernst gemeint war, denn so manche furchterregende radikale Erklärungen waren in Nebensätzen zur Bedeutungslosigkeit entschärft worden. Dies galt vor allem für die Drohgebärde bezüglich der Anwendung einer „Diktatur des Proletariats“ im Parteiprogramm von Linz (1926).

Als weichenstellende Fehlentscheidung der Sozialdemokratie erwies sich die Ablehnung einer Einladung zur Teilnahme an einer großen Koalition im Sommer 1931. Diese Ablehnung beruhte nämlich nicht auf Bedingungen, wie dies bei Abkommen über Koalitionen üblich ist, sondern auf einer vulgärmarxistischen Interpretation gesellschaftlicher Entwicklungen. Kurz gefaßt: Der Kapitalismus bricht zusammen, da geht man keine Koalition mehr mit dem Klassenfeind ein.

Diese Fehlentscheidung wurde bekräftigt, als bei Gemeindeund Landtagswahlen am 24. April 1932 die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei Hitlers von einer unscheinbaren Randpartei zu einer Massenpartei mit mehr als 20 Prozent der Stimmen geworden war. Diese Entwicklung wurde als antikapitalistischer Protest interpretiert mit der Erwartung, daß diese Protestwähler mittels konsequenter Oppositionspolitik für die Sozialdemokratie gewonnen werden könnten (siehe Otto Bauer: „Der 24. April“ in der Zeitschrift „Der Kampf“, Mai 1932).

Die Sozialdemokratie forderte Neuwahlen, weil die Zusammensetzung des Parlaments nicht mehr mit dem Willen der Wähler übereinstimmte. Neuwahlen hätten die Christlichsozialen gezwungen — in Anbetracht der Einstellung der Sozialdemokratie — die Nationalsozialisten als Koalitionspartner zu akzeptieren.

Nach dem Verbot der NSDAP am 19. Juni 1933 stimmten übrigens die Sozialdemokraten in allen gewählten Körperschaften mit ihren christlichsozialen Gegnern für die Annullierung der Mandate der gewählten Nationalsozialisten. Damit unterstützten jetzt die Sozialdemokraten das autoritäre Regime, das in dieser Zeit nach der Ausschaltung des Parlaments dabei war, auch die Sozialdemokratie zu unterdrük-ken.

Bei aller Gegensätzlichkeit war es nämlich zu dieser Zeit den „Roten“ und den „Schwarzen“ klar, was sie unter nationalsozialistischer Herrschaft erwartete. Eine Verständigung wurde jedoch von der faschistischen Heimwehr blockiert, welche über ihre Kontrolle des Innenministeriums und ausgestattet von Mussolini die Politik der Regierung zunehmend beeinflußte.

Im Mai 1932 hatten die Christlichsozialen die Heimwehr als Koalitionspartner akzeptiert, um Neuwahlen zu vermeiden. Nach Ausschaltung des Parlaments wurde mit „Notverordnungen“ regiert, die ohne Zustimmung gesetzgebender Körperschaften erlassen wurden. Die Sozialdemokratie wurde mit Salamitaktiken schrittweise in den Untergrund gedrängt.

Das führte zum Bürgerkrieg im Februar 1934. Nach Mussolinis Marsch auf Rom 1922 wurde der Republikanische Schutzbund als sozialdemokratische Wehrformation gebildet, um einen „Marsch auf Wien“ zu verhindern, welchen Bewunderer Mussolinis in Österreich offen als Ziel deklarierten. Nach Hitlers Machtübernahme im Reich war jedoch jeder Widerstand gegen die Heimwehr zum Scheitern verurteilt. Der Schutzbund wurde verboten, die Heimwehr als Hilfspolizei ausgegeben. Die Pressefreiheit wurde schrittweise eingeschränkt. Systematische Hausdurchsuchungen führten zur Beschlagnahme von versteckten Waffenlagern. In der ersten Februarwoche 1934 wurden zahlreiche Funktionäre der Partei verhaftet.

In einigen Gemeinden, in denen die Partei schwach war, besetzten Faschisten als Hilfspolizisten die Lokale der Sozialdemokratie und deklarierten diese als ihr Eigentum. Die Führung der Partei warnte vor bewaffnetem Widerstand, da dieser hoffnungslos war.

Dennoch griffen am 12. Februar 1934 Schutzbündler in Linz zu den Waffen, als Mitglieder der staatlichen Exekutive diese konfiszieren wollten. Das führte zu blutigen Zusammenstößen in etlichen Gemeinden und in Wiener Arbeiterbezirken. Die Schutzbündler wußten, daß ihr Widerstand aussichtslos war. Es ging ihnen jedoch darum, daß ihre Partei, die für sie viel bedeutete, nicht kampflos untergehen dürfe. Ihre Bindung an die Partei beruhte keineswegs auf utopischen Zukunftsvisionen, sondern auf den emanzipatorischen Leistungen ihrer Partei.

Der Kampf stärkte trotz der blutigen Unterwerfung das Selbstbewußtsein der Arbeiter und wirkte ernüchternd auf die Diktatur, die mit einer widerstandslosen Unterwerfung gerechnet hatte. Versuche, die Arbeiterschaft mit dem Regime zu versöhnen, blieben erfolglos.

Aus der unterdrückten Sozialdemokratie gingen unter dem autoritären Regime die Partei der „Revolutionären Sozialisten“ hervor sowie eine Kommunistische Partei, die erst nach ihrem Verbot am 26. Mai 1933 von einer unscheinbaren Randpartei zu einem Faktor in der Politik geworden war. Im Untergrund entstand eine Einheitsfront der beiden Parteien, die aus der alten Sozialdemokratie hervorgegangen waren.

Diese Einheit wurde brüchig, weil sich die Kommunisten völlig widerspruchslos dem Diktat von Moskau fügten. Damit wurde für viele in der Illegalität engagierte Sozialdemokraten die antikommunistische Politik ihrer Partei in den Jahren nach 1918 bestätigt.

Diese Erfahrungen kamen auch nach 1945 zum Tragen und motivierten den Widerstand, dem zu danken ist, daß Österreich der „reale Sozialismus“ erspart geblieben ist.

Gegen Diktatoren

• Die Sozialdemokratie hat durch wirksame Interessenvertretung die Integration der vorher rechtlosen Arbeiterschaft in die Gesellschaft erreicht.

• Das stolzeste Kapitel ihrer Geschichte bildet der Einsatz für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit gegen die Diktatoren Mussolini, Hitler und Stalin.

• Sozialdemokratische Gemeindepolitik der Zwischenkriegsjahre dient heute als Modell für Wohnbauprogramme und sanitäre Maßnahmen in anderen Großstädten.

• Die folgenschwersten Fehler resultierten aus einer Orientierung an utopischen Zielen einer konfliktfreien Gesellschaft, in der sich die „bürgerliche Demokratie“ erübrige. W. B. S.

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