Ach, Europa! Ach, Österreich!

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Der Europa-Wahlkampf ist unversehens zu einem Anti-EU-Wahlkampf verkommen. Als österreichischer Europäer findet man sich in diesem Getöse nicht mehr wieder.

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Der Europa-Wahlkampf ist unversehens zu einem Anti-EU-Wahlkampf verkommen. Als österreichischer Europäer findet man sich in diesem Getöse nicht mehr wieder.

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Ja, es stimmt: Wahlkämpfe sind Zeiten „fokussierter Unintelligenz“. Man könnte Michael Häupls geflügeltes Wort aus 2005 taxfrei auch im laufenden Europawahlkampf verorten. Und man will auch darauf hoffen, dass Sebas­tian Kurz sich post festum das Konrad Adenauer zugeschriebene Diktum: „Was kümmert mich mein Geschwätz von gestern. Es kann mich doch niemand daran hindern, jeden Tag klüger zu werden“ zu eigen macht.
Einen überzeugten Europäer lässt der türkise Schwenk in Sachen EU dennoch fassungslos zurück. Denn einmal mehr wird klar, dass aus der Europa-Diskussion jene Rosinen herausgepickt werden, die dem wahlkämpfenden Akteur in den Kram passen – oder galliger formuliert: die dem Krone-Heute-Österreich-Schlagzeilen-Pool entstammen, weil man damit hofft, mehr Stimmen zu lukrieren. Man muss gleichzeitig darauf hinweisen, dass die derzeitige Argumentation um EU-Regularien sich in nichts vom Niveau einstiger Anti-EU-Polemiken etwa eines Jörg Haider (zur Erinnerung: die EU würde uns „Blutschokolade“ oder „Schildlausjoghurt“ bescheren) unterscheidet.

Politik mit Verschwörungstheorien

Es ist ganz offensichtlich, dass sich zu all den angeführten „bösen“ EU-Entscheidungen mindestens so viele Gegenbeispiele anführen ließen – aber das geschieht nicht. Auch die Mär von der Bürokratie-Hochburg Brüssel sollte man in einem Land, das sich etwa Gebietskörperschaften-Bürokratien leistet, gegen die Brüssel nach wie vor verblasst, nicht weiterverbreiten. Aber Verschwörungstheorien halten sich hartnäckig – und eine ganze Regierung bedient diese hier, beileibe nicht nur der blaue
Koalitionär.
Nein, die aktuellen Vorgänge sollten nicht als lässliche Sünden, die dem Wahlkampfgetöse geschuldet sind, abgetan werden. Denn hier wird jene rote Linie überschritten, hinter der sich österreichische Europäer nicht mehr wiederfinden.
Natürlich geschehen die Grenzüberschreitungen schon lang, und es ist hierzulande seit Jahr und Tag kein realpolitisches Engagement für die Europäische Union als Projekt wie als Vision erkennbar. Natürlich ist vieles am geeinten Europa Stückwerk geblieben und die EU von heute alles andere als perfekt. Aber an einer wirklichen Weiterentwicklung herrscht zurzeit kein Inter­esse. An kleinstaatlicher Selbstsucht hingegen schon.

Europas nationalegoistisches Verzetteln

Es wäre Aufgabe einer visionären Politik, die Auseinandersetzung nicht in jene Niederungen abgleiten zu lassen, in denen die Europa-Politik zurzeit herumgrundelt. In dieser Hinsicht gleichen sich auch die Argumentationen diesseits und jenseits des Neusiedler Sees: Das trifft den Europäer im Land ins Mark. Und die Binsenweisheit, dass sich die Putins, Xis und Trumps dieser Welt ob Europas nationalegoistischem Verzetteln die Hände reiben, wird als Argument in der Auseinandersetzung gleichfalls kaum gehört.
Bei den Institutionen im Land fällt auf, dass es die Kirchen sind, die die europäische Idee und deren Friedens­potenzial ohne Wenn und Aber beschwören. Vielleicht liegt das daran, dass das Christentum (nicht nur, aber gerade in seiner katholischen Spielart) eine universale Religion ist und dass dazu auch Solidarität über Grenzen und Ethnien hinweg gehört.
„Es gibt doch schon beim Einhalten der bisherigen Verträge viel Luft nach oben“, hat einer dieser Tage gesagt: „Würden wir uns daran halten, könnten wir viele der anstehenden Probleme lösen.“ Solches äußerte der katholische „Europa-Bischof“ Ägidius Zsifkovits in einem Interview. Geistliche Amtsträger und weltliche Funktionäre der Kirchen stehen beinahe unisono für das Projekt Europa. Es ist bitter – und kurzsichtig, dass sie in Österreichs aktueller Politik keinen Bündnispartner finden.

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