Afghanistan: Verratene Grundlagen in der Regierungspolitik

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Wie sich die österreichische Regierungspolitik zur Afghanistan-Katastrophe verhält, kommt einer Bankrotterklärung gegenüber dem Primat von Menschen- resp. Frauenrechten gleich.

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Wie sich die österreichische Regierungspolitik zur Afghanistan-Katastrophe verhält, kommt einer Bankrotterklärung gegenüber dem Primat von Menschen- resp. Frauenrechten gleich.

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Jeder, der sich mit den Untiefen der Kindererziehung herumschlägt, kennt den Versuch, dass die mitunter gar nicht so lieben Kleinen sich vor Pflichten oder Aufträgen zu drücken suchen mit dem Argument, sie hätten dieses oder jenes schon so toll geleistet: Also dürften sie nun wirklich nicht mehr in die Pflicht genommen werden. Kluge Pädagog(inn)en vermitteln da, dass es eben Situationen gibt, wo etwas zu tun ist, unabhängig davon, was zuvor geschah.

Solches Lebenswissen mag in Familie und Kindergarten weiter gegeben werden: In der aktuellen politischen Sphäre Österreichs taugt es zurzeit nicht einmal als Binsenweisheit. Anders ist das Verhalten des regierungsoffiziellen Österreichs zur Afghanistan-Katastrophe nicht zu deuten. Mehr als das Mantra, Österreich habe schon genug Flüchtlinge aufgenommen, afghanische zumal, fällt der türkisen Mehrheit in der Regierung nicht ein; und der grüne Juniorpartner schnappt hörbar nach Luft, ohne sich aber zum Widerstand aufraffen zu können.

Die eigenen Ideale in der Müllhalde des Tagespopulismus zu entsorgen, geht an die Grundfesten der Gesellschaft.

Stattdessen wird Politik der Worte und Gefühle mit faktenbefreiten Parolen betrieben: Mögen die Taliban Kabul überrennen, der Innenminister bleibt beim absurden Ceterum censeo, Abschiebungen nach Afghanistan fortsetzen zu wollen, das er dann durch die nicht minder absurde Idee modifizierte, „Abschiebezentren“ in Afghanistans Nachbarländern errichten zu wollen. Und das apodiktische „Keine freiwillige Flüchtlingsaufnahme unter meiner Kanzlerschaft“ von Kanzler Sebastian Kurz kommt einer politischen Bankrotterklärung gleich: Jedenfalls bedeutet sie die Abkehr von allen Sonntagsreden über Menschenrechte, Frauenrechte, Schutz vor Verfolgung etc.

Keine Politik der Lebensrettung

Einmal mehr bedurfte es der Einschätzung des Bundespräsidenten, der die Sache nüchtern auf den Punkt brachte: Es gebe eine rechtliche, moralische und politische Verpflichtung für die EU und ihre Mitgliedsstaaten, Schutz für jene zu bieten, die ihr Land verlassen müssen, so Alexander Van der Bellen bei der Eröffnung des Europäischen Forums Alpbach. Und auch wenn der Präsident natürlich das diesbezügliche bisherige Engagement Österreichs anerkennt, fügte er trocken hinzu: „Das ist irrelevant.“

Was der alte Herr an der Staatsspitze seinem jungen Kanzler da ausrichtet, ist eben – siehe oben – banales Lebenswissen, das offenbar in der niederen Politik dieses Landes verschüttgegangen ist. Niemand leugnet, dass die Flüchtlings- und Integrationsfragen enorme Herausforderungen für die Gesellschaft darstellen. Aber die erste Frage, die angesichts der Bilder aus Kabul zu stellen ist, lautet: Was kann Österreich tun, um seinen Beitrag für die an Leib und Leben unmittelbar bedrohten Menschen – insbesondere Frauen! – zu leisten?

Diese Überlegungen waren Türkis bislang keinen Gedanken respektive kein öffentliches Statement und Grün keine erkennbare Strategie wert. Man weiß, dass die türkise ÖVP darauf schielt, ihre zuletzt rechts gewonnene Wählerschaft nicht zu vergraulen. Aber die eigenen Ideale und die Grundlagen einer freiheitlichen Gesellschaft so mir nichts, dir nichts in der Müllhalde des Tagespopulismus zu entsorgen, geht an die Grundfesten ebendieser Gesellschaft.

Es gibt Bereitschaft im Lande, in der allergrößten Not auch durch Aufnahme von unmittelbar Gefährdeten zu helfen. Dass die dafür Engagierten gegen die eigene Regierung aufstehen müssen, ist bitter. Man könnte da auch an den Talmud-Spruch „Wer ein Menschenleben rettet, rettet die ganze Welt“ erinnern. Dieser Satz impliziert, dass es nicht möglich ist, die Rettung der Welt im Ganzen zu erreichen. Aber man kann versuchen – und soll sich bemühen! –, wenigstens für das eine oder andere Menschenleben geradezustehen. Österreichs aktuelle Regierungspolitik scheint nicht einmal dazu bereit. Das schreit zum Himmel.

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