Land der Einzelfälle

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Jüngste Abschiebungen von Asylwerbern in Ausbildung zeigen einmal mehr: Es wäre hilfreich, sich den starren „Gesetz ist Gesetz“-Blick durch konkrete Schicksale trüben zu lassen.

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Jüngste Abschiebungen von Asylwerbern in Ausbildung zeigen einmal mehr: Es wäre hilfreich, sich den starren „Gesetz ist Gesetz“-Blick durch konkrete Schicksale trüben zu lassen.

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Österreich ist zurzeit auch ein Land der „Einzelfälle“. Das bezieht sich nicht nur auf notorische Blindheit in der FPÖ gegenüber Überschreitungen roter Linien in Bezug auf den Rechtsextremismus. In gleicher Regelmäßigkeit, also fast täglich, poppen „Einzelfälle“ von Abschiebungen gut integrierter und/oder mitten in Ausbildung befindlicher Asylwerber auf, für die sich lokale Gruppen und Gemeinschaften, oft aus kirchlichen Bereichen, stark machen.

Zuletzt machte der Fall eines afghanischen Lehrlings im evangelischen Krankenhaus Schladming, der überdies ein christlicher Konvertit ist, der in seine Heimat (in der er gar nicht aufgewachsen ist ...) abgeschoben werden soll, Furore. Analoges gilt für einen ähnlich gelagerten Fall im salzburgerischen Unken, wo ein afghanischer Hotelmitarbeiter vom Pfarrer via „Kirchenasyl“ vor den Behörden versteckt wurde: Auch hier sollte die Abschiebung kurz vor dem Lehrabschluss erfolgen: „Es kann nicht sein“, so der Pfarrer, „dass die Polizei wie in einer Diktatur in der Nacht kommt und Leute abholt“.

Es stimmt zwar, dass nun eine gesetzliche Regelung auf Schiene gebracht wird, die das Problem von Abschiebungen während einer Lehre lösen soll. Aber erstens ist auch diese Regelung weiterhin restriktiv ausgelegt – und zweitens kann sie erst greifen, wenn das derartige Gesetz in Kraft tritt. Bis dahin gilt weiter: Gesetz ist Gesetz – selbst wenn dieses schlecht ist und sich in vielen „Einzelfällen“ als menschenverachtend erweist.

Desavouierter Geist des Rechtsstaates

Auch die „enge Auslegung des Buchstabens des Gesetzes muss immer wieder dazu herhalten, den Geist unseres Rechtsstaates, der auf den Menschenrechten fußt und ein Kind der grausamen Erfahrungen der Nazi­diktatur ist, zu desavouieren“, meinte der lutherische Bischof Michael Chalupka am 9. November in der Wiener Ruprechtskirche beim Gedenken an die Novemberpogrome 1938: „Da kann man dann eben nichts machen, auch wenn man an den Hebeln der Macht sitzt, wenn gut integrierte Flüchtlinge aus ihren Lehrstellen heraus in Flugzeuge gesetzt werden, die sie nach Afghanistan bringen, auch wenn ihnen dort der Tod droht.“

Chalupka argumentierte weiter, der Blick auf das Leiden könne auch dadurch verstellt werden, „dass man glaubt, das Recht auf seiner Seite zu haben, oder sich hinter der Büro­kratie der scheint’s rationalen Notwendigkeit verstecken zu können.“ Schon 1946 habe der deutsche Rechtsphilosoph Gustav Radbruch geschrieben: „Der Positivismus hat in der Tat mit seiner Überzeugung ‚Gesetz ist Gesetz‘ den deutschen Juristenstand wehrlos gemacht gegen Gesetze willkürlichen und verbrecherischen Inhalts.

Derartige Schieflage des Rechts ist auch im freien, wohlhabenden Österreich leider nicht von der Hand zu weisen. Dass ziviler Ungehorsam, wie es etwa das Kirchenasyl darstellt, dann zum Tragen kommt, ist einer der wenigen Lichtblicke in der Dunkelheit dieser Verhältnisse und Vorkommnisse.

In einem Rechtsstaat sind auch im ‚Einzelfall‘ Menschenverachtung und Verletzung der Menschenwürde ein No-Go.

Es soll dabei keineswegs bestritten werden, dass die Thematik komplex ist und legis­tisch eine Herausforderung darstellt. Aber in einem liberalen Rechtsstaat sind auch im „Einzelfall“ Menschenverachtung und Verletzung der Menschenwürde ein No-Go.

Natürlich geht es hier um den politischen Willen, anders gesagt: Die Politik, die sich gern ein ethisches Fundament als Mäntelchen umhängt, ist gefragt. Da kann es hilfreich sein, sich den starren „Gesetz ist Gesetz“-Blick durch die jeweiligen „Einzelfälle“ trüben zu lassen. Wie wäre es, wenn sich da etwa ein ehemaliger und künftiger Bundeskanzler mit den dahinterstehenden konkreten Schicksalen erkennbar auseinandersetzt? Oder sich mit den vielen Ehrenamtlichen, die sich für Asylwerber einsetzen, an einen Tisch setzt und ihnen zuhört?

Regierungsverhandlungen hin oder her: Es wäre an der Zeit, solches endlich zu tun.

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