Menschenrechte ade?

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In Zeiten der Ungewissheit werden Grundlagen der freien Welt links liegen gelassen. Das ist eine finale Gefahr für Demokratien, die sich gegen autoritäre Regimes zunehmend wehren müssen.

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In Zeiten der Ungewissheit werden Grundlagen der freien Welt links liegen gelassen. Das ist eine finale Gefahr für Demokratien, die sich gegen autoritäre Regimes zunehmend wehren müssen.

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Der politische Philosoph Herfried Münkler, einer der herausragenden Zeitdiagnostiker, beleuchtet in einem luziden Aufsatz in der Zeitschrift Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte die Gegenwart als Zeitalter der Ungewissheit. Im Großen – siehe die Weltlage – wie im Kleinen – siehe die Erfahrungen der Pandemie – seien die Gewissheiten verloren gegangen.

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Münklers Diagnose scheint evident und wird gerade an den globalen Konflikten offenbar: „Ein aggressiv-unberechenbares Russland, ein unaufhörlich an Macht und Einfluss gewinnendes China, politisch gespaltene USA, bei denen man nicht weiß, woran man ist, und eine hilflos agierende Europäische Union: Wo eben noch starke Gewissheiten dahinschwinden oder sich als trügerisch erweisen, tritt die Ungewissheit mitsamt dem ihr folgenden Empfinden von Hilflosigkeit umso wirkmächtiger hervor.“

Der deutsche Vordenker konstatiert in dieser Lage das Überhandnehmen von Untergangsszenarien und schließt, dass die Krise der Gewissheiten „zu einer Gefahr für die liberale Demokratie“ geworden sei. Autoritäre Ordnungen hätten es zurzeit erheblich leichter. Münkler identifiziert dazu Fluchtbewegungen des Einzelnen, der sich „in die entleerten Räume metaphysischen Wissens erster Begründungen und letzter Fragen“ zurückziehe, „in denen sich inzwischen religiöse Fundamentalismen breit gemacht“ hätten. Oder er nehme „Zuflucht bei Verschwö­rungstheorien, die … Reste von scheinbaren Gewissheiten in die Welt setzen“.

Erosion von Grundlagen der Gesellschaft

Solcher Bewertung der Zeitläufte ist wenig hinzuzufügen. Aber man sollte der Einsicht, dass die liberale Demokratie gefährdet scheint wie zuletzt nie, hinzufügen, dass dies einhergeht mit dem Erodieren von wesentlichen Grundlagen derselben. Das Konzept der Menschenrechte etwa scheint dabei, wenn schon nicht in Vergessenheit zu geraten, so auch in den (noch) demokratischen Gesellschaften längst „unter ferner liefen“ angekommen zu sein.

Das Konzept der Menschenrechte scheint auch im Westen längst ‚unter ferner liefen‘ angekommen zu sein.

Wenn die Menschenrechte in Afghanistan zusammenbrechen, dann rührt hierzulande niemand einen Finger dafür, wenigstens die Bedrohtesten aufzunehmen. Und in all den Szenarien eines aktuellen Kalten Kriegs (und der Gefahr von militärischer Auseinandersetzung auch in Europa) spielen die Menschenrechte gar keine Rolle mehr. Wenn das russische Regime Dissidenten im Orkus seiner Lager verschwinden lässt und die Zivilgesellschaft gängelt, wo es nur kann, dann setzt die freie Welt dem nichts entgegen. Russland ist aber ebenso (noch) Mitglied des Europarates, zu dessen Existenzgrundlage die Beachtung der Menschenrechte gehört, wie die Türkei, in deren Gefängnissen gleichfalls Scharen der willkürlich zu Staatsfeinden Erklärten einsitzen. Oder der Fall des in Wien Studierenden, der sich in einem Kairoer Gefängnis als „Terrorist“ wiederfindet – ohne einen belas­tbaren Beweis dafür.

Vor wenigen Tagen fand in Wien eine Demonstration gegen Menschrechtsverletzungen und die Tibet-Politik Chinas statt – von der Öffentlichkeit wie den Medien weitgehend ignoriert. Derweil feiern sich Xi Jinping & Co mit den Olympischen Spielen und wollen die Staatsverbrechen gegen die Uiguren, aber auch das Niederschlagen der Freiheit in Hongkong oder immer stärkere Repression gegen Religionen vergessen machen. Und im Wüstenstaat Katar sitzt ein Schweizer Fußball-Mächtiger, der die absurde WM unter den die Menschenrechte verhöhnenden Bedingungen als Vorstufe zur Demokratisierung in diesem Land verkauft.

Ja, wir leben in einer „Ära der Ungewissheit“ (© Herfried Münkler). Aber wenn die liberalen Demokratien darob die Menschenrechte links liegen lassen, dann haben sie als Gesellschaftsform ausgedient. Das ist die finale Gefahr der aktuellen Entwicklungen.

Zum zitierten Essay von Herfried Münkler.

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