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Lektionen aus dem 17. Juni

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Kein Anlaß zum Feiern, aber ein Datum, das man nicht vergessen darf: der 17. Juni 1953. Dieser 17. Juni steht für die erste Erhebung des Proletariats gegen die Diktatur des Proletariats.

Die Welt ist erstaunt, blickt mit — passiver — Anteilnahme auf die Ereignisse in Ostberlin, wo Arbeiter auf die Straße gehen, um zuerst gegen neue „Arbeitsnormen“ (mehr Arbeit bei gleichbleibendem Lohn) zu protestieren, innerhalb von Stunden dann aber auch das Streikrecht, freie und geheime Wahlen sowie ungehinderten Verkehr mit Westdeutschland fordern.

Dann geht die Zweigstelle der staatlichen Handelsorganisation, das Columbus-Haus am Potsdamer Platz, in Flammen auf, etliche andere öffentliche Gebäude werden angegriffen. Bis dahin ist die Reaktion der sowjetischen Besatzungsmacht noch zurückhaltend gewesen. Jetzt -aber schaltet sie schnell: Ausrufung des Kriegsrechts in Ostberlin und anderen Industriebezirken Mitteldeutschlands.

Gepanzerte Divisionen rollen in die Städte, Infanterie rückt an. Und das erste Mal taucht jenes Bild auf, das sich einem Alptraum gleich in Osteuropa noch mehrmals wiederholen sollte: jugendliche Demonstranten, die mit Pflastersteinen gegen sowjetische Tanks ankämpfen.

Doch der schwere Vorhang der Repression senkt sich unaufhaltbar — und allmählich kehrt wieder Friedhofsstille in die ostdeutsche

Wirklichkeit ein. Hörbar ist nur mehr das mechanische Geplapper der offiziellen Propaganda. Diė Regierung gesteht „schwere Störungen der Ordnung im demokratischen Sektor von Berlin“ ein, macht dafür aber „Faschisten und andere reaktionäre Elemente in Westberlin“ verantwortlich. Die ganze „Affäre“ ist das „Werk von Provokateuren“.

Die Ursachen des Aufstandes freilich waren mannigfaltig und gingen zurück in die Zeit der sowjetischen Besetzung 1945. In ihrem Marschgepäck brachte die Rote Armee Herrn Walten Ulbricht und eine Reihe von Funktionären mit, die die „Gastfreundschaft“ Stalins im vorausgegangenen Jahrzehnt überlebt hatten.

Das politische Leben wurde „restauriert“, indem man an die Schaffung einer „antifaschistischen Front“ heranging. Innerhalb eines Jahres gelang es den Kommunisten in dieser Front, die viel größere SPD zu überrumpeln, ja aufzusaugen.

Die neue SED (Sozialistische Einheitspartei Deutschlands), wurde von Kommunisten geführt, Ider sozialdemokratische Flügel war alsbald bis zur Impotenz zurechtgestutzt. Von da war es nur ein kleiner Schritt zu einem monolithischen Staat, der sich in erster Linie der politischen „Umschulung“ und brutalen Unter drückung von Andersdenkenden widmete.

Die Verschmelzung der beiden Parteien brachte den Kommunisten die Mehrheit — aber das zu einem Preis: Während sich die sozialdemokratische Führung unter Otto Grotewohl widerstandslos schmählich ausgeliefert hatte, stand eine breite Masse innerhalb der SED, Arbeiter und Vertrauensleute eingeschlossen, weiterhin treu zu den Grundsätzen der Sozialdemokratie.

Diese Menschen waren empört und erbittert über die neue Regierung, die sich rücksichtslos in ihrer Politik über die Interessen der Arbeiterschaft hinwegsetzte. Eine der Lunten, die das Pulverfaß am 17. Juni zur Explosion brachten, war hier schon entzündet.

Hätte sich die neue zusammengeschmolzene Partei dazu entschieden, sich mit der Arbeiterschaft zu beraten, statt sie „umzuerziehen“, so wäre wohl auch nicht viel anderes dabei herausgekommen. Denn es waren die Sowjets, die das Sagen hatten. Und Stalin, von seinen ehemaligen westlichen Verbündeten im Ruhrgebiet um seinen Teil an der Kriegsbeute gebracht, war dazu entschlossen, so viele Reparationen wie möglich aus der östlichen Zone herauszupressen.

Während der späten vierziger Jahre verwelkten allmählich die Hoffnungen auf eine Wiederver einigung Deutschlands. Im Anschluß an die Berlin-Krise 1948 weitete die Sowjetunion ihren Einfluß in der DDR noch aus. Der sowjetische Erwerb der Atombombe und der Korea-Krieg (1950-52) beraubten den Westen endgültig jeglicher Einflußmöglichkeiten seinerseits.

Dann, im März 1953, starb Stalin. Die Ungewißheit über die Nachfolge, eine schwankende sowjetische Politik schien unerwartete Möglichkeiten für jene zu eröffnen, die auf einen Kurswechsel Moskaus hofften.

Es ist Tocqueville und nicht Karl Marx, der sich als der wahre Prophet der Revolution erwies. Und im Frühsommer 1953 kristallisierte sich in Ostdeutschland jene klassische revolutionäre Situation heraus, wie sie Tocqueville beschrieben hatte: Eine mächtige und brutale Tyrannei hatte plötzlich ihren Orientierungssinn verloren und sandte widersprüchliche Signale aus. Die Unschlüssigkeit in Pankow spiegelte die Verwirrung in Moskau wider.

Es war eines dieser widersprüchlichen Signale, das die Re-, volte auslöste. Nachdem sie ihrerseits Fehler in der Wirtschaftspolitik eingestanden hatte, erneuerte die Regierung urplötzlich wieder ihre Forderung nach erhöhten Arbeitsnormen, ohne gleichzeitig die Löhne anzuheben.

Am 16. Juni machten die Bauar beiter der Ostberliner Stalinallee mit einer mächtigen friedlichen Demonstration ihrer Empörung Luft; am nächsten Morgen waren die Machthaber mit einer regelrechten Revolte konfrontiert.

Es sind zwei Lektionen, die aus den Ereignissen des 17. Juni und späterer Unruhen in Osteuropa gezogen werden können. Erstens: All diese Aufstände verliefen nach demselben Muster. Ob in Ostberlin, in Ungarn, in der Tschechoslowakei oder in Polen: das Faß zum Überlaufen brachte jeweils eine unzufriedene Arbeiterschaft.

Gelegentlich standen auch Teile der kommunistischen Parteien selbst hinter den Revolten. Aber in jedem Fall überflügelte das Reformstreben den Willen oder die Fähigkeit der Partei, auf die Wünsche der Bevölkerung einzugehen. Und in jedem Fall zeigte das Proletariat bodenlose Verachtung für jene Partei, die angeblich in ihrem Namen regierte. Denn den Arbeitern war klar: Die wirklichen Herrscher im Sowjetblock sind die Parteibürokratien, die Geheimpolizei und Teile der Streitkräfte!

Die zweite Lektion ist viel schmerzlicher, denn das mit ihr zusammenhängende Problem ist bis-, heute nicht gelöst worden. Keiner dieser Aufstände war erfolgreich, wenn sich für die Bevölkerung in einigen Fällen auch kurz- und mittelfristige Besserungen ergaben.

Trotzdem: „Populär“ ist ein kommunistisches System nirgends auf der Welt. Aber bis jetzt hat es sich als unzerstörbar erwiesen. Diejenigen, die es zerstören wollen, müssen wohl erst lernen, wie man der Katze die Schelle umhängt...

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