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Lemminge mit Flügeln

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Diesmal sind sie bis Kreta und Spanien vorgedrungen. Obwohl wir ihnen nicht mehr so schutzlos ausgeliefert sind wie zu biblischen Zeiten, können sie Länder in Hungersnöte stürzen.

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Diesmal sind sie bis Kreta und Spanien vorgedrungen. Obwohl wir ihnen nicht mehr so schutzlos ausgeliefert sind wie zu biblischen Zeiten, können sie Länder in Hungersnöte stürzen.

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Moses hat keineswegs nur das Meer geteilt und über dem Pharao und dessen Streitmacht zusammenschlagen lassen. Auf Gottes Geheiß rief er auch die Heuschrecken herbei, auf daß sie alles auffressen sollten, was der Hagel übriggelassen hatte. Der Herr ließ den ganzen Tag und die folgende Nacht einen brennend heißen Wind wehen, und als der Morgen anbrach, waren die Heuschrecken

da und breiteten sich in solcher Zahl aus, daß sie das ganze Land überschwemmten, und fraßen alles kahl, so daß nichts Grünes auf den Feldern übrigblieb.

Seither wurde so mancher Bericht über das mögliche Ausmaß einer Invasion von Wanderheuschrecken für übertrieben gehalten — bis die Wirklichkeit wieder einmal die biblischen Geschichten verifizierte: Schistocerca pa-ranensis, die bekannteste Wanderheuschrecke, und ihre Verwandten sind tatsächlich in der Lage, in kürzester Zeit ganze Landstriche kahlzufressen. So überfiel 1955 ein 250 Kilometer langer und 20 Kilometer breiter Schwärm Südmarokko. In den folgenden Jahren vernichteten kleinere Trupps insgesamt 150 Quadratkilometer landwirtschaftliche Kulturen. Als sie dann 1961 massiert einfielen, herrschten gerade für die Bekämpfung besonders ungünstige Umstände, ausgiebige Regenfälle hatten die Straßen durchweicht, so daß die Bekämpfungsmittel nicht dorthin gebracht werden konnten, wo man sie benötigte, und die Wanderheuschrecken auf einem Gebiet von 4.000 Quadratkilometern

die Hälfte der Ernte auffressen konnten: In fünf Tagen 7.000 Tonnen Orangen, mehr als den gesamten Orangenimport Frankreichs in einem Jahr. Dies, obwohl 25 Flugzeuge Insektizide . versprühten. Der Schaden betrug über eine Milliarde Franc. Ohne Bekämpfungsmaßnahmen wären die gesamten Zitruskulturen zwischen Atlas und Anti-Atlas verloren gewesen.

Heuer hat die FAO, die Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen, bereits den Bedarf von rund zwei Milliarden Schilling zur Bekämpfung der aktuellen Wanderheuschreckenplage angemeldet. Ein derartiger Einsatz der chemischen Keule- in etlichen Ländern wird auch nach wie vor das in Europa und den USA längst verpönte klassische DDT verwendet - bedeutet Umweltschäden größten Ausmaßes, Vernichtung gewaltiger Mengen nützlicher Insekten, Massensterben von Vögeln durch die Kontamination der Nahrungskette. Bedeutet wohl auch über Jahre erhöhte Mengen gesundheitsschädlicher Rückstände in den landwirtschaftlichen Exportprodukten jener Länder.

Angesichts des jüngsten Uberfalls durch Wanderheuschrecken hat man aber nur noch die Wahl zwischen dem Teufel massiver chemischer Bekämpfung und dem Beelzebub einer Mißerntekatastrophe, die die Ernährungssituation in einigen afrikanischen Ländern noch verschärfen würde. Einzige Alternative ist eine gezielte, konsequente, vor allem rechtzeitige Bekämpfung der Heuschrecken in den Gebieten, von denen die Bedrohung ausgeht.

Man kennt die Bedingungen, unter denen aus seßhaften Heuschrecken Wanderheuschrecken

werden, heute recht genau, und dieses Wissen bedeutet die Chance, die sich anbahnende Krise früh zu erkennen und Maßnahmen zu treffen.

Es gibt unter den rund 5.000 Arten von Feldheuschrecken keine zehn, die zu plötzlicher, explosiver Vermehrung und zum Wandern neigen. Ausgelöst wird es durch ähnliche Faktoren wie die selbstmörderischen Züge der Lemminge. Wanderheuschrecken und Lemminge reagieren auf Uberbevölkerung mit Auswanderung. Bei den Lemmingen setzt diese plötzlich ein — eine seßhafte Population ändert ihr Verhalten und rennt ins Verderben. Bei den Heuschrecken ist der Vorgang komplizierter, der Ubergang von der seßhaften zur wandernden Form (und zurück) wird über je eine Zwischengeneration vollzogen.

Sobald die Exemplare der Soli-tärphase am Ursprung der

Schreckenwanderung zu oft auf Artgenossen treffen, geraten sie unter Streß. Dieser Streß löst über nicht restlos geklärte biochemische Mechanismen die Entwicklung der Wanderphase aus. Die nächste Generation ist durch eine geringere Zahl von Häutungen, weniger ausgeprägte Geschlechtsunterschiede und dünklere Larven gekennzeichnet, und erst aus den Eiern dieser Tiere schlüpft eine Generation mit völlig verändertem Verhalten: Schon die Larven strömen zusammen, statt einander eher zu meiden, und brechen als reife Tiere in die Ferne auf. Der Zusammenhang mit der Siedlungsdichte ist experimentell erwiesen. Auch die Rück-verwandlung zur Solitärphase geschieht über eine Zwischengeneration.

Schon die Larven der Wanderphase machen sich auf den Weg, kriechen wie Würmer vorwärts, buchstäblich Tausende von Milliarden, überqueren unter ungeheuren Verlusten alle Hindernisse, selbst Flüsse, fressen alles, was sie finden, wachsen, entwickeln sich und fliegen dann ab. Die Siedlungsdichte der Wanderphase läßt die Population explodieren. In den 50 bis 60 Tagen der Entwicklung im Eistadium und während der Larvenwanderung sind die Wanderheuschrecken am konzentriertesten und rationellsten und mit den geringsten Umweltschäden zu bekämpfen.

Feuchtigkeit und Wärme sind wichtige Vorbedingungen für den Ubergang zur Wanderphase. Da die Wanderheuschrecke aus trok-kener Nahrung auf chemischem

Weg Wasser gewinnt und ihren Körper durch Verdunstung kühlt, ist sie unempfindlich gegen Hitze, fühlt sich bei etwa 40 Grad Celsius am wohlsten, kann aber keinesfalls längere Zeit hungern.

Das Wanderphänomen hat seinen Stellenwert im Evolutionsgeschehen. Während die fallweise nach Mitteleuropa einfallenden Schwärme in den Tod fliegen, legen die aus Tansania über die Sahara kommenden ihre Eier in Marokko ab, wenden sich dann nach Süden und pflanzen sich in den Steppen der Südsahara und in Niger nochmals fort. Dies dient vermutlich der Vergrößerung des Siedlungsgebietes und damit dem Uberleben der Art.

Keinesfalls vertreibt Nahrungsmangel die Wanderheu- ■ schrecken aus ihrer Heimat. Die Tiere der Wanderphase sammeln sich auch zum Abflug, wenn an Ort und Stelle noch genug Futter vorhanden ist. Bernhard Grzimek sah hier, auf tieferer entwicklungsgeschichtlicher Ebene, einen Fingerzeig für den Menschen, dem die Zusammenhänge zwischen Streß durch hohe Populationsdichte und dadurch ausgelösten biochemischen Vorgängen zu denken geben sollten.

Ein berüchtigter Ausgangspunkt von Heuschreckenzügen ist das Rukwatal im Südwesten Tansanias, von wo sich die Scharen vorzugsweise nach Südafrika wenden. Dort lebt seit Jahrzehnten eine Gruppe von Fachleuten, die das Geschehen beobachtet und fallweise warnt. Aber die Heuschrecken, die etwa im späten 19. Jahrhundert mitten in

Deutschland auftraten, kamen vom Schwarzen und vom Kaspi-schen Meer.

In subtropischen Gegenden wurden, als es noch keine Insektizide gab, tausend und mehr Liter Heuschreckeneier (nicht fertige Insekten!) pro Hektar Land zur Vernichtung eingesammelt. Heuschreckenschwärme können Straßen unpassierbar machen und Züge zum Stehen bringen, weil sich die Räder der Lokomotiven durchdrehen. Heuschrecken gelten aber nicht nur als Nah-rungsvernichter, sondern auch als Nahrung: Die alten Griechen machten ein Mehl daraus, das sie mit Milch vermischten. Johannes der Täufer, der in der Wüste 40 Tage von Honig und Heuschrek-ken lebte, bediente sich einer keineswegs unüblichen Diät. Neuerdings bekommt man Heuschrek-ken sogar im Supermarkt — geröstet, als Konserven aus Japan.

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