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Lernen für den Großen Bruder?

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Will die gegenwärtige Erziehungswissenschaft eigenständige Individuen oder ökonomisch brauchbare, „gut funktionierende" und unkritische Untertanen heranbilden?

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Will die gegenwärtige Erziehungswissenschaft eigenständige Individuen oder ökonomisch brauchbare, „gut funktionierende" und unkritische Untertanen heranbilden?

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Wer der gegenwärtigen Pädagogik den Vorwurf macht, sie betreibe die Abrichtung des Menschen, der gerät leicht in den Verdacht, in unseriöser Weise polemisch zu sein. Denn allenthalben und mit Vehemenz verkündet sie gerade das Gegenteil: ihr Ziel sei die Selbstbestimmung und Autonomie des Menschen.

Wer dennoch jenen Vorwurf erhebt, der muß sich über die Schwere dieser Anklage klar sein. Er behauptet nicht mehr und nicht weniger, als daß die Pädagogik ihren wichtigsten Auftrag mißachte, der ihr selbst Fundament und Rechtfertigung gibt.

Denn der Vorwurf von der Abrichtung des Menschen meint: den Menschen für Zwecke zu funktio-nalisieren, die er sich nicht selbst gesetzt hat, ihn einem Programm zu unterwerfen, das andere für ihn entworfen haben; ihn also um das zu bringen, was ihn in seinem Menschsein auszeichnet, was Theologie, Philosophie, Anthropologie, Politik oder Ethik als Ergebnis ihrer denkerischen Bemühungen feiern und vorgeben: Freiheit und Selbstbestimmung, Menschenrechte, Achtung vor der Würde des Menschen.

Unser Problem, die Gefahr der Perversion der Pädagogik, verweist auf eine fundame'ntale.Fra ge: wie pädagogische Führung möglich ist, ohne den Geführten fremdzubestimmen. Mit der Beantwortung dieser Frage entscheidet sich das Bildungsverständnis und die ihm zugrundeliegende Anthropologie.

Im Zuge der sogenannten realistischen Wende, in der Emanzipation der Pädagogik von der Theologie, dann von der Philosophie und der Hinwendung zum Wissenschaftsideal moderner Sozialwissenschaft verschiebt sich ihre Fragestellung: das Interesse gilt nicht mehr dem Ziel und den Wertfragen. Das Interesse richtet sich vielmehr auf die Effektivität pädagogischen Handelns.

Dieser Weg der modernen Erziehungswissenschaft ist durch zwei einander ergänzende Motive gekennzeichnet. Da ist einmal ein technologisch-ökonomisches Interesse. Der Einsatz der Pädagogik soll möglichst wirkungsvoll sein, und das von ihr erzeugte Produkt, der ausgebildete Mensch, soll möglichst gut funktionieren. Die damit zu gewinnende gesellschaftliche Nützlichkeit läßt sich durch die neugewonnene wissenschaftliche Reputation ergänzen, d. h. durch die Anwendung einer am Ideal der Naturwissenschaft entwickelten Methode. Sie will wertfrei sein und nur das gelten lassen, was objektiv meßbar, d. h. quantifizierbar ist.

Dieser enge Zusammenhang zwischen einem ökonomischen Verwertungsinteresse und der Form der modernen Erziehungswissenschaft bestimmt die Richtung und die Art ihrer Forschung. Er bestimmt die Bildungspolitik, er bestimmt die Reformen in Schule und Lehrerbildung. Die jenem ökonomischen Interesse verpflichtete Forschung sucht den Zusammenhang zwischen dem pädagogischen Einfluß und der erzielten Wirkung immer genauer zu bestimmen. Sie muß um der objektiven Gesetzmäßigkeit willen den subjektiven Faktor mehr und mehr ausschließen, damit der Zusammenhang von Reiz und Reaktion eindeutig herausgearbeitet werden kann. Deshalb ist es keineswegs Zufall, daß die experimentelle Lernforschung zunächst einmal mit Hunden und Ratten unternommen wurde.

Die damit eingeleitete Veränderung im Verständnis von Unterricht, Erziehung und Bildung kann in ihren radikalen Konsequenzen gar nicht überschätzt werden.

Lernen ist nicht mehr Selbst-vergewisserung von Geltung, sondern das Speichern und Bereithalten jener Informationen, die für die zugedachten Funktionen verwertbar sind. Lehren und Unterrichten ist nicht das Erschließen der Teilhabe an Wahrheit, sondern geschickte Strategie, damit der Lernende möglichst viele Informationen in möglichst kurzer Zeit zusammenrafft. Erziehung ist nicht der Hinweis auf ein verbindliches Sollen im Dienst des Guten; sie hat sich reduziert und pervertiert auf das Erzeugen gewünschten und verwertbaren Verhaltens. Deshalb spricht die moderne Erziehungswissenschaft auch nicht mehr von Erziehung, sondern von Sozialisation, nicht mehr von Haltung, sondern von Verhalten, nicht mehr von Tugenden, sondern von Qualifikation, nicht mehr von Persönlichkeit, sondern von Kompetenz.

Das kritische Speichern von Informationsdaten darf nach deren Geltung und innerem Zusammenhang nicht fragen. Das kostet Zeit

Der dressierte Schüler und stellt den Prozeß des effektiven Lernens als Vorgang des Sammeins und Speicherns nur in Frage. Förderlich ist hingegen jenes Zwiedenken, das seine kritischen Möglichkeiten aufgegeben hat, um Entgegengesetztes in gleicher Weise im Gedächtnis speichern zu können, um entgegengesetzte Verhaltensweisen zu vollziehen und für richtig zu halten, wenn es gewünscht wird.

Dies alles ist die nicht nur in Kauf genommene, sondern ausdrücklich gewollte Folge, wenn Pädagogik nach ihrem eigenen

(Karikatur Liebermann)

Zweck nicht mehr fragt, sondern sich auf die Frage der Mittel der Durchsetzung vorgegebener Zwecke reduziert. Sie muß unter dem zum alleinigen Maß erhobenen Anspruch auf Effektivität, auf die Wirksamkeit ihrer Maßnahmen, schließlich döfh ihr anvertrauten Subjekt verbieten, seinerseits über die ihm zugedachten Zwecke nachzudenken. Genau darin dokumentiert sich die von der Erziehung selbst besorgte Entmündigung des Individuums bzw. Abschaffung des Subjekts. Pädagogik sinkt zum Instrument der Abrichtung.

Die Sprache der modernen Erziehungswissenschaft verrät die' Tendenz. Da ist von Strategie und Steuerung die Rede, von Opera-tionalisierung und Evaluierung, von Speichern und Abrufen, von Konditionierung, von Sozialisation und Internalisation. Das gleiche Interesse an Effektivität bestimmt unsere Schulversuche. Da wird auf und ab untersucht, unter welchen organisatorisch institutionellen Bedingungen, mit welchen didaktischen Programmen, mit welchen Unterrichtsmitteln möglichst viel an meßbarem Wissen in möglichst kurzer Zeit den Schülern beigebracht werden kann. Nicht anders ist die Tendenz in der Lehrerbildung.

Dies skeptische Bild läßt sich ergänzen: Mit der Vorstellung von der Steuerbarkeit des Menschen und seines Verhaltens korrespondiert die Notwendigkeit bürokratischer Administration und Kontrolle. Denn eine wertfreie, auf die Effektivität von Steuerung bedachte Erziehungswissenschaft schafft kein pädagogisches Ethos. Der Lehrer bedarf deshalb der Vorschriften und gesetzlichen Vorgabe, als Ersatz für die Ethik eigener Verantwortung. Damit wird die dieser Erziehung und ihrer Wissenschaft zugrundeliegende Anthropologie deutlich. Sie rechtfertigt diese Praxis mit dem Hinweis auf gesellschaftliche Notwendigkeiten in Politik, Wirtschaft und Verwaltung. Nur wenn sie sich jener Lenkungsinstrumente bedient, könne sie die ungeheure Herausforderung modernen Lebens annehmen und eine befriedigende Antwort geben.

So plausibel diese Einlassung klingt, so wenig kann sie wirklich überzeugen. Denn — um nur einige Beispiele herauszugreifen — der Friede ist nur zu sichern, das soziale Leben nur human und gerecht zu gestalten, wenn sie in Gesinnung und Haltung, d. h. in der autonomen Person gesichert sind.

Verheerende Folgen von Abrichtung und Entmündigung des Menschen müssen sich im Bereich der Politik einstellen. Demokratie muß zur Diktatur entarten, wenn Bürger ihre kritisch kontrollierende Aufgabe nicht mehr wahrnehmen können. Wenn man diesen Zusammenhang sieht, dann entlarven sich die sogenannten gesellschaftlichen Notwendigkeiten als Alibi zur Praxis der Verhaltenssteuerung, zur Rechtfertigung von Macht.

Macht ist auch das Interesse des Größen Bruders bei Orwell. Die Zwecke werden zum Vorwand: etwa die Verteidigung gegen innere und äußere Feinde, die Sicherung der sozialen und biologischen Existenz. Der Vertreter des Großen Bruders erklärt: „Die Partei strebt die Macht lediglich in ihrem eigenen Interesse an. Uns ist nichts am Wohl anderer gelegen; uns interessiert einzig und allein die Macht als solche ... Die Macht ist kein Mittel, sie ist ein Endzweck."

Dieser Verführung durch Macht verfällt auch eine Pädagogik der Steuerung und Lenkung; es ist jene Verführung zur Ursünde, sein zu wollen wie Gott, Menschen zu formen.

Menschenformung, das war der Buchtitel einer sanktionierten und geförderten nationalsozialistischen Pädagogik. Was bei dieser Menschenformung herauskommt, entartet immer zum Zerrbild möglicher Humanität: ein Mensch, der sein Menschsein verloren hat, dem Zukunft und Vergangenheit auf die vom Großen Bruder okkupierte Gegenwart zusammengeschmolzen sind, der seine Vernunft dem Zwiedenken, d. h. der beliebigen Verfügbarkeit ausgeliefert hat.

Wenn die Pädagogik sich an der Abschaffung des Subjekts nicht mitschuldig machen will, dann ist ihr radikales Umdenken auferlegt.

Der Autor ist Professor für Pädagogik an der Universität Wien. Stark gekürzte Fassung seines Referates beim Salzburger Humanismusgespräch 1984 „Jenseits von Freiheit und Würde?".

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