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Lernen wir zu trauern ?

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Viele Menschen in Österreich und Deutschland lesen Bücher über die untergegangene jüdische Kultur. Eine Auswahl aus diesen Neuerscheinungen wird hier vorgestellt.

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Viele Menschen in Österreich und Deutschland lesen Bücher über die untergegangene jüdische Kultur. Eine Auswahl aus diesen Neuerscheinungen wird hier vorgestellt.

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Hundert und mehr Jahre werde es dauern, die geistigen und materiellen Spuren der Nazizeit zu tilgen, hieß es unmittelbar nach dem Krieg, in Deutschland wie in Österreich.

Wenige Jahre später waren die materiellen Spuren noch allgegenwärtig. Was die geistigen betraf, konnte man den Eindruck gewinnen, es sei ein reibungsloser Ubergang zur Tagesordnung gelungen, das ganze grauenhafte Geschehen restlos verdaut. Aber nur von jenen, die nichts dafür konnten und von dem, wofür sie nichts konnten, nichts hören wollten. Die anderen waren zum Schweigen gebracht. Die Nachwirkungen der NS-

Zeit, die Versuche, mit ihr zu Rande zu kommen, haben jede Phase der Nachkriegszeit anders geprägt. Eine Geistesgeschichte seit 1945 unter diesem Blickwinkel müßte erst geschrieben werden. Eine der Grobstrukturen dafür liefern die Trends auf dem Gebiet des Sachbuches.

Die sind freilich nicht immer leicht zu interpretieren. In den letzten Jahren erschienen in deutscher Sprache mehr Bücher über jüdische Themen als je zuvor seit dem Zweiten Weltkrieg. Aber: Für wen? Beim Frankfurter Athenäum-Verlag, der Judaica in einem eigenen „Jüdischen Verlag bei Athenäum“ herausbringt, ist man davon überzeugt, daß sie zu einem großen Teil nichtjüdische Käufer finden.

Auch andere Anzeichen sprechen dafür, daß die Auseinandersetzung mit den Folgen des Nationalsozialismus 40 Jahre nach Kriegsende in ein neues Stadium tritt, daß sie von vielen jungen Menschen getragen wird, einer breiteren Schicht als früher, daß sie mit Ernsthaftigkeit geschieht und dabei Trauer eine größere Rolle spielt als je zuvor. Lang nach dem Krieg geborene Menschen entwickeln jene Fähigkeit zu trauern, die Alexander Mit-

_ scherlich ihren

Eltern und Großeltern absprach. Sie erschöpft sich nicht in Anklagen, sondern drückt sich auch im Interesse an der vernichteten jüdischen Kultur aus. Eine Fülle von Neuerscheinungen wird ausschließlich diesem Interesse gerecht. Andere behandeln Antisemitismus und heutiges jüdisches Selbstverständnis.

Der Beitrag der jüdischen Kultur zum Erscheinungsbild unserer Städte ist nur noch wenigen in Erinnerung. Eine Vorstellung davon gibt der sorgfältig edierte Band „Europas Synagogen—Architektur, Geschichte und Bedeutung“ von Carol Herselle Krinsky

(Deutsche Verlagsanstalt, Stuttgart, 448 Seiten, 253 Abbildungen, Ln., öS 1.554,40). Die gezielte Vernichtung aller Zeugnisse einer Bevölkerungsgruppe und ihrer Kultur war ein singulärer Barbarenakt.

Die New Yorker Architekturhistorikerin bietet nicht nur eine Bestandsaufnahme des Erhaltenen und Verlorenen, sondern viel mehr: Eine Geschichte der Synagoge in den verschiedenen Epochen und ihrer Beziehungen zu Kirche und Moschee. Obwohl Synagogen ihren religiösen Charakter lange Zeit nicht zur Schau stellen durften und sich später oft der Kirchenarchitektur anpaßten, besaß Wien vor 1938 sowohl orientalisierende, das Stadtbild um ein faszinierend fremdartiges Element bereichernde Synagogen als auch (vorsichtig) der Moderne verpflichtete. Daß Josef Hoffmann Mitglied der Jury war, die den Entwurf von Richard Neutra für eine Hietzinger Synagoge zugunsten eines unverbindlich gefälligen Projekts von Arthur Grünberger abschmetterte, mag manchem in Wien neu sein. In der Nachkriegszeit, in all den Bestandsaufnahmen baukünstlerischer Substanzverluste, wurden Wiens Synagogen bestenfalls am Rand erwähnt, meist völlig ignoriert.

Gerade dieser Stadt, wo der Zustrom von Ostjuden im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert heute wieder als Entschuldigung für den Antisemitismus gehandelt wird, ist allen, die eines haben, die „Chassidische Feier“ von Elie Wiesel ans Herz zu legen. Wenige Bücher führen, Verstand und Gefühl ansprechend, so eindrucksvoll in die Welt des Ostjudentums und des Chassidismus ein. Wer Josef Roths „Hiob“ liebt, ist auf die Begegnung mit Rabbi Michal von Zloczow vorbereitet, der betete: „Laß nicht zu, daß ich mich meiner Vernunft gegen die Wahrheit bediene.“ Oder mit Rabbi Nachum von Tschernobil, der auf die Frage, warum er denn, wo er doch so bettelarm lebe, Gott für die Erfüllung all seiner Bedürfnisse danke, zur Antwort gab: „Für mich ist die Armut ein Bedürfnis.“ („Chassidische Feier—Geschichten und Legenden“ von Elie Wiesel. Verlag Herder, Freiburg i. Br., 264 Seiten, Ln., öS 298,-)

Man muß unterscheiden zwischen den in Kenntnis seines Unterganges geschriebenen Büchern über das Ostjudentum und dessen früheren literarischen Selbstzeugnissen. Erstere lassen sich an letzteren überprüfen. Dazu eignen sich trefflich zwei Bände aus Nicolais „Deutscher Bibliothek des Ostens“: Die „Ghetto-Geschichten“ von Leopold Kompert und die „Erzählungen aus Galizi-en und der Bukowina“ von Karl Emil Franzos. Der 1822 geborene Kompert galt schon zu Lebzeiten als Chronist einer sterbenden Welt, welcher der um 26 Jahre j üngere Franzos viel mehr Lebenskraft zutraute. Geradezu ein Schlüsselwerk ist seine Erzählung „Schiller in Barnow“, in der ein Ghetto Jude zur Bewunderung für Schillers Ideen und Sprache „erwacht“ und die mit den Sätzen beginnt: „Es gibt, alles in allem, deutsch und polnisch, fünf Exemplare im Städtchen. In der einzigen Bibliothek freilich, jener der Dominikaner, findet sich keines. Aber das hat seine guten Gründe. Erstens war Schiller kein Katholik. Zweitens sind die .Räuber' bekanntlich sehr unmoralisch.“ (Nicolaische Verlagsbuchhandlung Beuermann GmbH, Berlin; 162 bzw. 196 Seiten, Ln., je öS 149,80)

Ein tragischer Bogen verbindet die vor 300 Jahren geschriebenen „Denkwürdigkeiten der Glückel von Hameln“ (Athenäum, Frankfurt/M., 340 Seiten, Pb., öS 199,-) mit dem Roman „Rebecca oder Ein Haus für Jungfrauen jüdischen Glaubens besserer Stände in Frankfurt am Main“ (Athenäum, Frankfurt/M., 228 Seiten, Ln., öS 298,-).

Die einfache Hamburger Jüdin Glückel von Hameln begann 1689 mit 43 Jahren nach dem Tod ihres Mannes mit der Niederschrift ihrer Erinnerungen für ihre Kinder. Diese Erinnerungen sind nicht nur von einer solchen Unmittelbarkeit und Aufrichtigkeit, daß man sie auch heute noch mit Genuß liest.

Der Roman von Adam Seide schildert diese Emanzipation vom Ende her, schildert in fingierten Briefen und Tagebuchaufzeichnungen (darunter denen eines SS-Mannes) das Herunterkommen eines hundertjährigen Frankfurter Hauses — bis zum Abbruch nach dem Zweiten Weltkrieg. Auf einen neuen Aufbau hoffen mehr Menschen, als es manchmal scheinen mag.

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