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Lernprozeß im „Jahr der Bibel"?

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In der Kolumne „Zeitgespräch" (FURCHE 19/1992) forderte Superintendent Peter Karner evangelische und katholische Christen auf, die biblischen Abwertungen der Homosexualität ebensowenig „wörtlich" (buchstäblich) zu nehmen wie etwa die Aussagen über die Erschaffung der Welt „in sechs Tagen", die Zählung der Hasen zu den Wiederkäuern und das Pauluswort „Die Frau soll in der Kirche schweigen". Unter Berufung auf Jesus attackiert er Wiener Gemeinden, die das Abhalten eines ökumenischen Gottesdienstes Homosexueller in ihren Kirchen ablehnten. Ob die Bittsteller wirklich „hinausgeworfen" wurden und die Ablehnenden pauschal als „fromme Hinauswerfer" apostrophiert werden können, wage ich zu bezweifeln.

Sicherlich können die alttestament-lichen Urteile über Homosexualität (mit der Forderung der Todesstrafe: Lev 18,22; 20,13)heute ebensowenig wie andere biblische Texte ohne jegliche Berücksichtigung der veränderten Verhältnisse einfach übernommen werden. Dasselbe gilt auch für ihre Erwähnung in den Lasterkatalogen des Neuen Testaments (Rom 1,26-32; 1 Kor 6,9-11; 1 Tim l,9f). Moderne Medizin und Psychologie zwingen uns, die Veranlagung zur Homosexualität und auch homosexuelles Verhalten differenzierter zu beurteilen, als das früher möglich war. Das verlangt jedenfalls, auf früher übliche Diskriminierungen und Strafen zu verzichten; solchen Menschen ist vielmehr größtes Verständnis entgegenzubringen. Alle christlichen Kirchen müssen beschämt eingestehen, daß sie erst viel zu spät darauf Rücksicht genommen haben.

Allerdings darf dabei nicht außer acht bleiben, daß „homosexuell" nicht immer dasselbe Phänomen bezeichnet und nicht jedes homosexuelle Verhalten gleich zu bewerten ist. Die einzelnen Fälle sind jeweils zu unterscheiden. (Das trifft auch auf die zu, die einen eigenen ökumenischen Gottesdienst abhalten wollten; ob das überhaupt alle wünschen?) Wie neuere moral- und pastoraltheologische Arbeiten lehren, bedarf es daher in der Praxis immer einer einfühlenden Rücksichtnahme. Daraus folgt aber nicht, daß alles unterschiedlos als beliebige „Spielart menschlichen Lebens" gutzuheißen ist.

Völlig verfehlt und gegen jede verantwortungsbewußte neuere Exegese ist die von Peter Karner vorgetragene biblische Argumentation, ebenso auch • der von ihm geforderte „Lernprozeß im ,Jahr der Bibel'". Die scharfe Verurteilung homosexuellen Verhaltens in der Bibel hat dort ein ganz anderes Gewicht als etwa die zeitbedingten Aussagen über die Erschaffung der Welt in den beiden verschiedenen Schöpfungsberichten (Gen l,l-2,4a; 2,4b-24) und über das Schweigegebot für Frauen (1 Kor 14,34), das ganz auf eine konkrete Situation bezogen ist und durch die kurz vorher erwähnte Praxis des Redens von Frauen beim Gottesdienst (1 Kort 1,5) ohnehin relativiert wird.

Durch das Verwerfen homosexueller Handlungen wie auch jedes außerehelichen Geschlechtsverkehrs distanzierten sich nämlich Altisrael, das frühe Judentum und die Urkirche eindeutig von einer bei den Heiden damals gebilligten Praxis, und das nicht bloß wegen der manchmal (aber nicht immer!) gegebenen Verknüpfung mit heidnischen Kulten. Hier geht es für Juden und Christen um eine Abgrenzung, die engstens mit ihrer Berufung zu einem Neuanfang in einer sündigen Welt zusammenhängt. Können die christlichen Kirchen heute - besonders in einer sexuell so überreizten und oft jede ethische Verantwortung mißachtenden Umwelt - eine von der Bibel geforderte Abgrenzung einfach aufgeben, ohne damit aufzuhören, im Sinn der Schrift „Kirche Gottes" und „Gemeinschaft der Heiligen" (derer, die anders sind) zu sein?

Dieser Frage müssen sich alle stellen und versuchen, sie in einem echten „Lernprozeß" zu beantworten. Dazu genügt weder ein fundamentalistisches Beharren auf dem Buchstaben, noch eine bloße Berufung auf den „Geist" der Bibel unter völliger Mißachtung von Kontext, Aussageabsicht und unterschiedlicherGewichtung der einzelnen Texte. Verantwortungsbewußte Exegese kann nicht darauf verzichten, die einzelnen Aussagen sorgfältig zu untersuchen und bei ihrer Anwendung auf die heutige Situation im Einzelfall jeweils genau zu differenzieren. „Ich unterscheide" (distin-guo) ist bekanntlich ein altes, heute leider oft vergessenes Prinzip theologischen Lernens und Diskutierens.

Das gilt auch für die von Karner angeführte Berufung auf Jesu Umgang mit den Sündern, den vor allem der Evangelist Lukas verteidigt. Nirgendwo steht, daß Jesus diese nicht wie alle anderen zur „Umkehr" gerufen hat. (Vergleiche Jesu Wort zu der nicht verurteilten Ehebrecherin: „Geh hin und sündige von nun an nicht mehr!" Joh 8,11.) Eine solche Bereitschaft zur Veränderung des Lebens verlangte Jesus auch von denen, mit denen er Mahl hielt. Daß er mit Sündern, ohne von ihnen eine Umkehr zu erwarten, Mahl gehalten habe, ist nach Heinz Schürmann (Erfurt) eine „Legende der Wissenschaft", die in den Texten keinen Anhalt hat. Sollten sich übrigens Unter den „Sündern" auch Homosexuelle befunden haben, worüber die Bibel nichts schreibt, wie Karner mit Recht bemerkt, so dürfte Jesus als Jude seiner Zeit diese kaum anders beurteilt haben als seine jüdischen Zeitgenossen und auch Paulus, ohne sie aber deswegen von einer Liebe auszuschließen.

Der Autor ist Vorstand des Instituts für Neute-stamentliche Bibelwissenschaft an der Universität Wien.

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