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„Letzte Tage“ der ersten Stunde

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Als Nachtrag zum Mammutunternehmen des 39bändigen „Fackel“-Reprints im Kösel-Veriag ist, zum erstenmal seit 1918/19, die sogenannte Aktausgabe der „Letzten Tage der Menschheit“ wieder zu haben. Was das bedeutet, mag auch so manchem, der Karl Kraus längst kennt und verehrt, zunächst gar nicht so klar sein. Karl Kraus folgte, bei den „Letzten Tagen“ mehr als bei irgendeinem anderen Werk, dem Konstruktionsprin-zip schrittweiser Erweiterung, Vertiefung, Perfektion. Man weiß, daß das „einem Marstheater zugedachte“ Werk während des Ersten Weltkrieges entstand, daß es aber, aus Zen-surgründen, erst unmittelbar nach dem Krieg in vier Sonderheften der „Fackel“ erscheinen konnte, aber kaum jemand kennt diese Fassung. Daher ist auch das Ausmaß der Erweiterungen und Umformungen, die Karl Kraus zwischen dem Erscheinen dieser sogenannten „Aktausgabe“ und den Buchausgaben von 1922'und 1926 vorgenommen hat, weithin unbekannt.

Ein Thema für Germanisten ur.d Karl-Kraus-Spezialisten? Mitnichten^ denn was nun vorliegt, ist nicht weniger als die „Letzten Tage“ in der Fassung der ersten Nachkriegsstunde, ist idas, ohne Übertreibung, bedeutendste Antikriegsstück aller Zeiten und einflußreichsite politische Drama beider Nachkriegszeiten des zwanzigsten Jahrifounderts so, wie es der noch im Banne des Weltkrieges stehende Dichter einer noch im Banne des Weltkrieges stehenden Menschheit vorlegte.

Gerade der Umfang der Erweiterungen, die Karl Kraus nach dam Erscheinen der Aktausgabe vornahm, verleiht der Wiedervorlage eben dieser ihre Bedeutung. Da die späteren Buchausgaben unter Verwendung des Satzes der Aktausgabe und im gleichen Satzspiegel hergestellt wunden, läßt sich das Ausmaß der Erweiterung genau angeben, sie betrug 116 Seiten und 50 Szenen (ungeachtet der von Karl Kraus vorgenommenen Umstellungen). Wobei es auch für den nicht gerade Kraus-fanatischen Kraus-Interessenten hochinteressant ist, auf die Suche nach Zusätzen und Weglassungen zu gehen.

Gestrichen wurde zum Beispiel eine Szene von köstlicher Bosheit, in der Hugo von Hofmannsthal in der Zeitung auf einen an ihn gerichteten offenen Brief des kriegsbegeisterten Hermann Bahr stößt...

Dies um so mehr, als den „Letzten Tagen“ der Ruf der Schwierigkeit und' Unzulänglichkeit völlig zu Unrecht anhaftet. Technisch schwierig sind sie für Theaterleute; für den Leser hingegen haben sie die Frische und Unmittelbarkeit der großen, wuchtigen Anklage in satirischer Form. Für den heutigen Leser sind die „Letzten Tage“ freilich so etwas wie ein „Lesebuch der Unmenschlichkeit“ gewonden, viele wurden zu Kennern der „Letzten Tage“, ohne sie je in einem Zug von der ersten bis zur letzten Seite gelesen zu haben. Eine Annäherungsweise, die es nicht gerade erleichtert, die strengen Kornposdtionsprinizipien des Verfassers zu erkennen.

Dafür entfaltet dieses Werk heute eine Wirkung, an die Karl Kraus kaum gedacht haben dürfte — für Generationen, fün die auch Auschwitz Geschichte geworden ist, über die sie in den Schulen oft weniger als über die Stauferkaiser lernen, hat sich die Funktion dieses Stückes von der Anklage auf die Information verlagert. Und dies unter zwei Gesichtspunkten.

Zunächst: Was für die Generation eines Karl Kraus, oder auch eines Tucholsky (der Karl Kraus bewunderte) den Gipfel des Entsetzens darstellte, wunde ein Vierteljahrhunderi später so gründlich übertroffen, da£ man vergaß, daß auch im Erster Weltkrieg Menschen nicht nur vor Granaten, sondern von Kriegsgerichtsräten und ihren Zutreibern getötet wurden, daß die „gute Gesellschaft“ der „guten alten Zeit“ schor damals eine Gleichgültigkeit gegenüber der Unmenschlichkeit entwickelte, in der das Nicht-aur-

Kenntnis-Nehmen der nationalsozialistischen Ungeheuerlichkeiten bereits angelegt war.

Die Unmittelbarkeit dieser nach fast 60 Jahren wieder vorliegenden „Aktausgabe“ resultiert auch daraus, daß sie die von Karl Kraus ausgewählten Photos enthält. Und wer da meint, daß die Unmenschlichkeit ein Privileg der SS war, betrachte das dem fünften Akt vorangestellte 'Bild eines feisten, grinsenden, schnurrbärtigen Henkers mit Melone über einem gehenkten Zivilisten inmitten von allerlei Leuten, die sich für das Photo in Positur gestellt Imben. Solche Aufnahmen entstanden nicht erst 1939.

Zum anderen aber sind die „Letzten Tage der Menschheit“ die große,

kompetente Registratur einer Sprache. Karl Kraus hatte das phonographische Gehör. Er wollte, als er die Sprache der Unmenschen mit ihren feinsten Nuancen wiedergab, anklagen — er war Satiriker und Polemiker. Aber gerade die ungeheure Akribie dieses seines Senso-riums für Töne und Untertöne hat dazu geführt, daß in den „Letzten Tagen“, und nirgends sonst, für alle Zeiten festgehalten ist, wie die Menschen in Österreich und Deutschland in der Zeit des Ersten Weltkrieges gesprochen haben. Die Feschaks, 'die Nowotnys, Pokornys und Powolnys, die sich am Beginn jedes Aktes mit den gleichen Worten an der gleichen Sirk-Ecke treffen, ,gestern hab ich mulattiert“ und „Klassikaner“, die

Redakteure („Schreiben Sie, wie sie beten!“), die Hauptleute, die Pülcher, die Schutzleute, die Kellner — und nicht zuletzt die Biachs, Moldauers und so weiter.

Es war der Ankläger Karl Kraus, der die Sprache der von ihm angeklagten Gesellschaft für die Nachwelt festhielt. Er tat es besser als jedes Phoncgrammarchiv.

DIE LETZTEN TAGE DER MENSCHHEIT. Tragödie in fünf Akten mit Vorspiel und Epilog von Karl Kraus. Akt-Ausgabe. Supplementband zum Reprint der „Fackel“. Kösel-Verlag, München, 702 Seiten, öS 754,60.

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