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Liberales China
„Treten Sie nur näher“, muntert mich eine freundliche ältere Chinesin in wohlgesetztem Englisch auf. Ich komme der Aufforderung gerne nach, das anmutige Interieur in einem Pavillon des Wangxi Gartens, eines wahren Kleinods der Stadt Suzhou am Kaiserkanal, ins Bild zu bannen.
„Sie kommen aus Österreich? Ach, Sie haben Glück: ein reiches Land, wenig Menschen, viel Musik.“ Die Kulturrevolution habe in dieser kunstsinnigen Stadt viel Unheil angerichtet, erzählt die Museumswärterin.
Es war nicht das erste und einzige Mal, daß wir auf unserer Reise durch das Reich der Mitte auf die Kulturrevolution angesprochen
wurden. Als wollten sich die Chinesen nach Jahren des Schweigens und der Isolation von den Schatten der Vergangenheit losreißen, so kam es uns vor.
An der Grabstelle des großen Meisters Konfuzius in Qufu hatte die Zerstörungswut der Roten Garden deutlich erkennbare Spuren hinterlassen. „The damned gang of four“, sagt plötzlich ein Chinese neben uns. Was denn wohl aus der Mao-Witwe Jiang Qing geworden sei, ergreife ich die Gelegenheit beim Schopf. Das wisse er nicht, antwortet der junge Mann verlegen.
Ein neues Bewußtsein des Milliardenstaates drückt sich schon im Straßenbild aus. Ist die ältere Generation dem einheitlichen Mao-Look treu geblieben, so versucht sich die junge mit ihren bescheidenen Mitteln individuell zu kleiden. Im Gehaben gegenüber Fremden sind blanke Neugier und naive Kommunikationsfreudigkeit längst einer unbeteiligten Indifferenz oder aber einem aufrichtigen Wissensdurst gewichen.
Die jüngsten Studentenproteste in China sind Ausdruck anhaltender Ungeduld in der jüngeren Generation. „Die Jugend hält mit Kritik nicht zurück, sie ist selbstbewußt und aufmüpfig“, erklärt mir ein älterer Chinese in Shanghai, zwei Monate vor den Ereignissen.
In seiner Stimme schwingt Bewunderung mit. „Wir waren unterwürfig und wagten es nicht, die Stimme gegen die Partei zu erheben.“
Die Lockerung der Zügel durch die Parteiführung ist auch den — anerkannten — nationalen und religiösen Minderheiten zugute gekommen (siehe Kasten).
In Xian, dem Endpunkt der ehemaligen Seidenstraße, wird die
Hauptmoschee der moslemischen Hui derzeit sorgfältig instand gesetzt. In Luoyang stoßen wir auf ein nettes einheimisches Restaurant. Der Besitzer bedeutet uns stolz, das Zeichen des Kreuzes auf den Tisch malend, daß er sich zur christlichen Glaubensgemeinschaft bekenne. Zahlreiche buddhistische und taoistische Tempel erstrahlen wieder in neuem Glanz.
Die Wiedererweckung alter Traditionen erscheint wie ein Akt der Wiedergutmachung nach dem Wüten der Rotgardisten.
Am Geburtstag Konfuzius hatten wir Gelegenheit, den erst seit wenigen Jahren in der Kong-Mao-Tempelanlage abgehaltenen Feierlichkeiten beizuwohnen. Alte Kultinstrumente und kostbare Gewänder bildeten den Rahmen für einen Festzug, bei dem die ganze Parteiprominenz der Provinz Shandong zugegen war. Daß sich der 77. direkte Nachfahre des Meisters 1949 nach Taiwan absetzte, wird diskret verschwiegen.
Der im Zuge der Öffnung ins Land gekommene Tourismus hat bereits negative Spuren hinterlassen. Hier ist die Offenheit im Umgang mit Touristen von anderer Art, das Personal in großen Ausländerhotels ist oft unaufmerksam und darüber hinaus ungeschult.
Umgekehrt macht sich die wirtschaftliche Liberalisierung positiv bemerkbar. Ausdrücklich betont in Suzhou der Chef eines Kunstgewerbeladens, sein Geschäft sei privat. Am Nationalfeiertag waren die staatlichen Läden geschlossen, die privaten offen.
Hinter dem augenscheinlich stoischen Gleichmut der Chinesen verbirgt sich oft eine Portion rebellischen Geistes und Eigensinns.
Die staatliche Presse ist dazu übergegangen, von sich aus Themen aufzugreifen, die lange Zeit als tabu galten, und der Bevölkerung in privaten Sphären Ratschläge zu erteilen. Die „China Daily“, durch Wochen hindurch unsere einzige Lektüre, schrieb über den aus wirtschaftlichem Fortschritt erwachsenden Spielraum für Freizeit und Liebe ebenso wie die über die wünschenswerte Mischung der Bevölkerungsgruppen anhand von Beispielen aus der Provinz Yunnan, in der 24 Minderheiten leben.
China ist im Umbruch. Die Alten machen zögernd mit, den Jungen geht es zu langsam. Wie weit Staats- und Parteiführung die mit den Massenkundgebungen eingeleitete, auf Beschleunigung des Liberalisierungsprozesses dringende Entwicklung steuern, mitvollziehen oder bremsen, ist noch nicht abzusehen.
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