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Liberalismus konkret: Misanthropie plus Hoffnung

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Anarchie ist schön, aber unpraktisch? Wer den Gedanken gleicher Lebenschancen für alle zu Ende denkt, kommt fast unausweichlich zum Begriff einer Gesellschaft, in der Menschen nicht über Menschen herrschen; aber werden Begriff einer herrschaftsfreien Gesellschaft zu Ende gedacht hat, ist in der Regel mit Hobbes, oder etwas zurückhaltender vielleicht mit Locke, zu dem Schluß gekommen, daß der „Naturzustand Unzuträglichkeiten mit sich bringt, für die der Bürgerstaat die richtige Medizin, ist".

So wie die Menschen sind, bedarf Gesellschaft jeder Art gewisser Regeln, und diese müssen geschützt, sanktioniert werden; zumindest ein „minimaler Staat" ist unumgänglich. So wie die Menschen sind, können diese Regeln und die zu ihrem Schutz ersonnenen Instanzen sich als irrig erweisen, sie müssen daher veränderbar bleiben; die Chance des Fortschritts ist Voraussetzung der Bekämpfung des Irrtums.

Womit der Liberalismus beinahe schon definiert wäre: Misanthropie plus Hoffnung; der Versuch, die praktische Notwendigkeit von Herrschaft so intim wie möglich mit den größten Lebenschancen der größten Zahl zu verbinden; der Glaube an die Kraft und das Recht der einzelnen Menschen, getaucht in den Zweifel an der Vollkommenheit der menschlichen Dinge, ein Stück Moral und ein Stück Erkenntnistheorie.

Der Unterschied zum reinen Konservatismus und zu progressisti-schen Heüslehren liegt auf der Hand. Der Konservative kann Wandel nur als organisch, somit als marginal und ungerichtet, ohne Sinn, begreifen; der Progressist zieht sein Pathos in aller Regel aus einem gefährlichen Absolutheitsanspruch seiner Programme; beide haben, wenn auch mit unterschiedlicher Stoßrichtung, eine verdächtige Vorliebe für kollektive soziale Größen, den Staat, die Nation, die Familie, die Organisation, die Klasse, das Volk.

Der Unterschied zum Liberalismus wird vollends zum Widerspruch angesichts jener Mischung von organisierter Immobilität und dogmatischem Anspruch, die man Faschismus nennen kann.

Moralisch ist am Liberalismus die Uberzeugung, daß es auf den einzelnen ankommt, auf die Verteidigung seiner Unversehrtheit, auf die Entfaltung seiner Möglichkeiten, auf seine Lebenschancen. Gruppen, Organisationen, Institutionen sind nicht Selbstzweck, sondern Mittel zum Zweck der individuellen Entwicklung. Zugleich ist der einzelne mit seinen Motiven und Interessen Triebkraft der gesellschaftlichen Entwicklung.

Gesellschaft muß also zunächst Spielräume schaffen, Kräfte freisetzen, die am Ende Kräfte einzelner Menschen sind. Begriffe wie Rechtsstaat und Marktwirtschaft haben hier ihren Ort. Der Individualismus des Liberalen gewinnt jedoch seinen Sinn erst im Kontext der erkenntnistheoretischen Annahme, daß es keine Gewißheit'darüber gibt, ob die jeweilige Antwort richtig ist und bleibt oder nicht. Wir leben in einem Horizont der grundsätzlichen Ungewißheit. Solcher Zweifel am Absoluten führt zu der Forderung nach Verhältnissen, die es erlauben, zu jedem Zeitpunkt verschiedene und über die Zeit hin immer neue Antworten zu geben, nach einer offenen Gesellschaft. Das Interesse der Liberalen an der Meinungsfreiheit, aber auch an politischen Institutionen, die den Wandel zum Prinzip erheben, in diesem Sinne an Demokratie, hat hier seinen Grund...

Zwei Kollektivismen bedrohen entwickelte Gesellschaften (und von ihnen soll hier vornehmlich die Rede sein): die konservativ-autoritäre Bewegung über Ruhe-und-Ordnung-Parolen zurück zu einer eher modern formierten Gesellschaft; und die revolutionär-sozialistische Bewegung von Parolen der Steuer- und Investitionspolitik hin zu einer terroristischen Gleichheit, wie sie George Or-well endgültig beschrieben hat.

Ob gegenüber diesen Gefahren eine liberale Position noch eine Chance hat, hängt von zwei Dingen ab: von der Fähigkeit der Liberalen, ihre Prinzipien in neuer Weise auf eine veränderte sozialökonomische Großwetterlage anzuwenden, und von gewissen sozialen und politischen Entwicklungen, die Liberale selbst nur zum Teil kontrollieren können...

Heute ist Sozialpolitik vielfach zu einem kostspieligen Instrument der Unbeweglichkeit geworden.

Schlimmer noch, die Dynamik der Gleichheit hat in zunehmendem Maße die Grenzen zwischen notwendiger Gleichheit der Chancen und entmutigender Gleichheit der tatsächlichen Lebenslage verwischt; extreme Formen progressiver Besteuerung und mißverstandene Vorstellungen der Gesamtschule sind aktuelle Beispiele.

Bürokratisierung einerseits, Nivellierung andererseits sind Herausforderungen an eine liberale Gesellschaftspolitik, die die sozialen Errungenschaften respektiert, aber unermüdlich insistiert, daß der Sinn dieser Errungenschaften darin liegt, dem einzelnen mehr Lebenschancen, und das heißt, eine optimalere Verbindung von Zugehörigkeiten oder Bezügen und Bewegungsspielraum oder Wahlmöglichkeiten zu geben.

In der säkularen Dialektik von Freiheit und Gleichheit ist die Stunde der Freiheit, nämlich die ihrer Bedrohung durch falschen Egali-tarismus, gekommen. Die Alliariz von Liberalismus und Sozialismus hat insoweit ihren Sinn erschöpft...

In einer solchen Situation bleiben dem politischen Liberalismus im wesentlichen zwei Möglichkeiten. Die eine liegt in der Organisation der „denkenden Minderheiten", also jener vier, fünf, sechs Prozent, die unter allen Umständen Zweifel an großen Organisationen haben, verbunden mit der Hoffnung auf Situationswähler, die sich jeweils nicht entscheiden wollen zwischen gleichermaßen verdächtigen Alternativen.

Der Spielraum liegt zwischen unter fünf und beinahe zwanzig Prozent der Stimmen bei allgemeinen Wahlen; er kann entscheidend sein für politische Systeme...

LEBENSCHANCEN (Anläufe zur sozialen und politischen Theorie). Von Ralf Dahrendorf. Suhr-kamp-Taschenbuch, öS 48,-.

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