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Liebe oder Sex?

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Ziemliche Verwunderung erregte es, daß die Thesen, die im Anschluß an die letzte österreichische Pastoraltagung der Direktor der Erziehungsberatung in Karlsruhe, Diplompsychologe Ernst Eil, in einem Rundfunkinterview aussprach, anscheinend öffentlich unwidersprochen blieben. Schon die Thesen selbst hatten ja nicht geringe Verwunderung hervorgerufen. Sie waren ausführlicher auf der Tagung in einem Referat vorgetragen worden, das selbst eine knappe Zusammenfassung der im Vorjahr erschienenen Schrift Elis „Sexualmoral, voreheliches Geschlechtsleben und Zölibat“ darstellte.

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Ziemliche Verwunderung erregte es, daß die Thesen, die im Anschluß an die letzte österreichische Pastoraltagung der Direktor der Erziehungsberatung in Karlsruhe, Diplompsychologe Ernst Eil, in einem Rundfunkinterview aussprach, anscheinend öffentlich unwidersprochen blieben. Schon die Thesen selbst hatten ja nicht geringe Verwunderung hervorgerufen. Sie waren ausführlicher auf der Tagung in einem Referat vorgetragen worden, das selbst eine knappe Zusammenfassung der im Vorjahr erschienenen Schrift Elis „Sexualmoral, voreheliches Geschlechtsleben und Zölibat“ darstellte.

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Die österreichisch«! Pastoraltagun- gen, die weit über die Grenzen Österreichs hinaus als Wiener Weihnachtsseelsorgertagungen bekannt sind und sich lebhaften Interesses und guten Besuches auch aus dem Ausland erfreuen, standen durch viele Jahre unter dem Zeichen des regsamen Prälaten Dr. Rudolf. Immer wurden dazu Themen gewählt, die für die Seelsorge jeweils von besonderer Aktualität waren. So nahm sich auch die letzte Tagung Ende Dezember 1970 der drängenden Problematik „Humanisierte Sexualität — Partnerschaftliche Ehe — Erfüllte Ehelosigkeit“ an. Die „Wiener Kirchenzeitung" berichtet darüber mit dem Untertitel „Ein Schock und eine Klärung". Beides stimmt: Am Anfang wurde zahlreichen Teilnehmern durch das Referat von Eil ein Schock versetzt; schon durch das unmittelbar darauf folgende Referat des Münchener Moraltheologen Gründel und durch die anderen bedeutenden Referate sowie die Tätigkeit in den Arbeitskreisen wurden die Dinge zurechtgerückt und geklärt. Leider blieb dieses Zurechtrücken den meisten Hörem des Rundfunkinterviews imbekannt.

Publikumswirksam begann Eil seinen Vortrag „Menschliche Sexualität. Ergebnisse der empirischen Forschung und Reflexionen eines christlichen Psychologen“ damit, daß er mit der traditionellen Moral abrechnete. Er wollte von der alttraditionellen Moral nichts wissen, welche die Sexualität der Fortpflanzung als Zweck unterstellt habe. Er wandte sich aber auch gegen die neutraditionelle Moral, nach der die Sexualität der Liebe dienen soll. Angefangen von Pius XI., der in „Casti connubii“ von der Förderung der Gattenliebe als Ziel der Ehe und der ehelichen Geschlechtsbetätigung gesprochen hatte, über Pius XII. und das 2. Vatikanische Konzil bis zu Paul VI. 1st ja dieser Sinn der Geschlechtlichkeit immer deutlicher herausgestellt worden. Das Konzil etwa zeigt die Gattenliebe als Sinnziel der Ehe und sagt dazu: „Diese Liebe wird durch den eigentlichen Ehevollzug in besonderer Weise ausgedrückt und verwirklicht. Die Akte, durch die die Eheleute eins werden, sind gut und recht; sie bringen, wenn sie menschenwürdig vollzogen werden, die gegenseitige Hingabe zum Ausdruck und dienen ihr. Und durch diese Hingabe bejahen die Eheleute einander und werden bereichert (Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt Von heute 49).

Daß EU die alttraditionelle Moral, der er die Zielsetzung „Fortpflanzung“ zuordnet, ablehnt, überrascht nicht, wenn man einige heutige Trends kennt (das Konzil hatte allerdings gemeint: „Ehe und eheliche Liebe sind ihrer Eigenart nach auf die Zeugung und Erziehung von Nachkommenschaft ausgerichtet.“ (Die Kirche in der Welt von heute 50). Daß er auch die neutraditionelle Moral mit ihrem Eintreten für das Sinnziel „Gattenldebe“ verwirft, würde man vielleicht nicht erwarten. Man kann es aber verstehen, wenn man seine „neue Moral“, die er an Stelle der traditionellen anbietet, näher ansieht (die „New Morality“, die mit den alten Moralanschauungen radikal aufräumen will, ist besonders im englischen Sprachbereich groß geworden). Der Mensch erreiche seinen eigentlichen Wert in der volili 1’ ‘seiner J Leib-

Sėele-BJkiheit, ttad’-das geschehe im leiblichen Liebesakt (vgl. Elis obengenannte Schrift S. 26). Daher sei es wünschenswert, daß jeder Mensch, in welchem Alter oder Lebensstand auch immer, sich geschlechtlich betätige. Der Beginn des Geschlechtslebens liege nach Beheben in der Entscheidung jedes einzelnen bzw. jedes Paares. Die neue Moral ,^erwartet einen Gebrauch (der Geschlechtlichkeit), wie er Vorn Wesen der Geschlechtlichkeit her sinnvoll ist, nämlich vor der Ehe die leibliche Ausgestaltung der Liebe unter Vermeidung einer Zeugung, in der Ehe leibliche Ausgestaltung und Offenheit zum Kind, während der generativen Phase und danach wieder die leibliche Ausgestaltung der personalen Liebe“ (S. 18). Um den uneingeschränkten „Gebrauch“ der so verabsolutierten Geschlechtlichkeit zu sichern, lehnt Eil ihre

Unterordnung unter „Zwecke“ wie Fortpflanzung oder Liebe ab; mit Recht erkennt er, daß von daher dem „Gebrauch“ Einschränkungen drohen könnten. Er legt nur nahe, daß man gewisse „Motivationen“ überdenken soll:

a) Einem Partner solle nur freie Hingabe zugemutet werden, damit es beiderseitig zum leiblichen Orgasmus und zur Ekstase der Seele komme, b) Man solle zur Verantwortung bereit sein: gegenüber dem Partner, „in welchem durch den Geschlechtsakt die .große Liebe durchbrechen kann“ (was allerdings auch nicht die Pflicht zur Ehe, sondern nur die des Beistandes bis zur Verkraftung der Trennung schaffe), und bei etwaiger Zeugung gegenüber Mutter und Kind, c) Man solle sich von der Gesinnung der Liebe leiten lassen, die nicht nur Lust sucht, sondern auch Lust vermitteln will als Gabe der Liebe (mehr als Sympathie), die man füreinander empfindet und die in der aktuellen Intention auf ein gemeinsames Leben hinstrebt, wenn dafür auch keine feste Garantie gegeben werden kann (S. 18 f).

Diese neue Moral hält Eli für mehr als einen Kant’schen Formalismus; sie sei „materiale Wertethik“ (Scheier), setze das Erlebnis von Werten voraus (vgl. das geschilderte volle Mensčhsein durch den geschlechtlichen Vollzug), nicht bloß unbeweisbare äußere Normen. „Die neue Moral will nicht Normen von außen in die Seelentiefe hineintragen, sondern will jene Werte ansprechen, die in der Seelentiefe selbst ihre Heimat haben — diese neue Moral ist auch die eigentlich christliche: zur Begründung lese man keine Kirchenlehrer, sondern das Evangelium selbst“ (S. 20).

Nun, das ist eben die Frage, ob das Evangelium diese neue Moral kündet. Diese scheint als Grundanliegen die Erfüllung des menschlichen Lebens zu haben; der leibliche Liebesakt mache den Menschen im Vollsinn zum Menschen; daher die apodiktische Betonung seiner Wichtigkeit für den Verheirateten und den Unverheirateten im Referat Elis: Er sei gesund, sei für den Menschen schlechthin etwas Ähnliches wie für den Sportler eine Höchstleistung in seinem Bereich; ohne ihn verkümmere der Mensch mehr oder weniger und büße allgemein an Leistungsfähigkeit ein. Die geschlechtliche Betätigung auch des Unverheirateten, des noch nicht Verheirateten, des Verwitweten sei zu bejahen; dem Jugendlichen müsse man nur, damit er ihr ungehindert nachgehen könne und doch nicht unverantwortlich Kinder ins Leben setze, auch die entsprechenden Verhütungsmittel an die Hand geben. Daß der Zölibat auf solchem Hintergrund vorwiegend als defekte Lebensform gesehen wird, ist nicht zu verwundern. Mit einem gewissen Widerstreben gesteht EU zwar zu, es geben Sublimation, gesteigerten Einsatz von Kräften in anderen Bereichen, Sublimation des Macht- oder Aggressionsbetriebs ebenso Wie des Geschlechtstriebes, „und es gibt Geistliche, denen sie bis zu einem gewissen Grad gelingt“ (S. 39). Er bezeichnet diesen Fall aber als Ausnahmefall und zählt eine lange Reihe weniger erfreulicher „Lösungen“ auf (S. 39—49). Im Grunde geht es bei dieser von der neuen Moral vertretenen Lebenserfüllung um etwas sehr Ichbetontes (Liebe zum eigenen Ich). Wenn der junge Mann etwa seine menschliche VerwirkUchung im Geschlechtsakt mit einer Partnerin sucht, braucht er dazu nicht eine „große Liebe“, die feste Garantien eines gemeinsamen Lebens bieten würde (vgl. S. 19); es genügt eine kleine Liebe, die für den Fall, daß durch den Geschlechtsakt in ihr die „gjroße Liebe“ durchbricht, zwar nicht so weit geht, daß er sie heiraten wiU, nur so weit, daß er sich nicht gleich von ihr trennt, sondern erst dann, wenn sie damit fertig werden kann, und daß er bei etwaiger Zeugung zu seinem Teil für Mutter und Kind sorgen will (vgl. S. 19). Braucht man ein Übermaß an Phantasie, um sich vorstellen zu können, welche Lebenstragödien daraus entspringen können?

Das Evangelium scheint denn doch eine andere Hochform des Menschseins zu lehren als die neue Moral. Gewiß anerkennt es, daß der Mensch nach Lebenserfüllung verlangt. Jesus sagt: „Ich bin gekommen, damit sie Leben haben und es In Fülle haben“ (Joh 10, 10). Man darf jedoch nicht übersehen, daß das Evangelium die Erfüllung nicht dem Menschen verheißt, dem das Ich das Um und Aut seines Strebens ist, sondern gerade dem, der über sich selbst hinausgeht, der sich zu Gott und zum Mitmenschen hin überschreitet. Das Paradoxon, daß man sich findet, wenn man sich verliert, daß man gewinnt, wenn man etwas hingibt, das Paradoxon einer Liebe, die „nicht den eigenen Vorteil sucht“ (1 Kor 13, 5), läßt sich m seiner’Richtigkeit gewiß nicht rational beweisen, wohl aber existentiell erfahren. Es spricht Werte an, „die in der Seelentiefe selbst ihre Heimat haben“, jedoch kaum mit denselben Akzenten wie ‘die neue Moral. Im Lichte eines solchen Menschenbildes erscheint ein verantwortungsbewußtes enthaltsames Leben vor oder nach der Ehe nicht mehr als Defektform. Schon gar nicht kann man das von der freien Lebensentscheidung für ein eheloses Leben aus Motiven jener Liebe, zu der das Evangelium ruft, sagen, so sehr um die konkrete Verwirklichung dieses Ideals gerungen werden muß (wie ja auch die eheliche Liebe nicht problemlos reift).

Eli meint, eine traditionelle Moral, die der Geschlechtsbetätigung von den Sinnzielen „Liebe“ (im Sinn des Neuen Testaments) und „Fortpflanzung“ her einen sittlichen Rahmen ziehen will, mit dem Vorwurf des Juridismus abtun zu können (S. 15). Könnte man nicht ihm den Vorwurf eines einseitigen Psychologiismus machen, den andere Psychologen nicht mit ihm teilen? Professor Adolf-Emst Meyer, Leiter der Medizinischen Universitätsklinik und -Poliklinik des Universitätskrankenhauses in Hamburg-Eppendorf, sagte kürzlich: „Die Entlarvung der Verteufelung der Sexualität beweist nicht ihre Harmlosigkeit… Soweit die Sexwelle neue Abhängigkeiten und andere Tabus zu setzen sich anschickt, gilt es, wachsam zu sein“ (Frankfurter Hefte 1970, 889 f). Der Tiefenpsychologe hat zweifellos Bedeutsames zum Thema zu sagen. Um aber dieser Wirklichkeit umfassend gerecht zu werden, muß man auch auf andere Leute hören.

Die „Wiener Kirchenzeitung“ (10. 1. 1971) konnte von der Weihnachtsseelsorgertagung berichten, sie habe nicht unproblematisch begonnen, habe aber in Freude, Friede und neuer kraft zu neuem Dienst im Reiche des Herrn geendet. Dieses erfreuliche Ergebnis hat man eben jenen Referenten und Tagungsteilnehmern zu danken, die ihre Erkenntnisse zu den Aussagen von Eli nicht nur hinzufügten, sondern sie ihnen in wesentlichen Stücken entgegenstellten.

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