6990719-1986_44_03.jpg
Digital In Arbeit

Lieber tot als rot!

19451960198020002020

Gescheiterte Abrüstungsverhandlungen - drohende Apokalypse? Vor Frieden um jeden Preis warnen uns jene, die im Osten ihr Leben für die Menschenrechte riskieren.

19451960198020002020

Gescheiterte Abrüstungsverhandlungen - drohende Apokalypse? Vor Frieden um jeden Preis warnen uns jene, die im Osten ihr Leben für die Menschenrechte riskieren.

Werbung
Werbung
Werbung

Wenn ich die beiden grundlegenden politischen Alternativen betrachte, zwischen denen heute ein westlicher Gebildeter oszilliert, so scheint mir, daß sie nichts anderes sind als zwei verschiedene Arten, auf das Spiel einzugehen, das eine entpersönlichte Macht dem Menschen anbietet: zwei verschiedene Arten des Weges zur allgemeinen Totalisie-rung.

Eine Variante des „Eingehens auf das Spiel“ ist ein weiteres Spielen des entpersönlichten Ver-Standes mit dem Geheimnis der Materie — dieses „Gott-Spielen“ —, also ein weiter fortgesetztes Erfinden und Aufstellen alles vernichtender Waffen, die zur „Verteidigung der Demokratie“ bestimmt sind und nur dazu verhelfen, die Demokratie weiter auf jene „unbewohnbare Fiktion“ zu degradieren, zu der auf unserer Seite Europas der Sozialismus schon lange geworden ist.

Die zweite Variante des Eingehens auf dasselbe Spiel stellt umgekehrt jener verführerische Trichter dar, der so viele aufrichtige und gute Menschen in seinen Sog zieht und der „Kampf für den Frieden“ heißt.

Wie nämlich wäre es besser möglich, in der Welt der rationalistischen Tradition und ideologischen Konzepte einen aufrechten und freidenkenden Menschen unschädlich zu machen, als ihm eine — soweit möglich — einfache These anzubieten, die alle Zeichen eines gottgefälligen Zieles trägt?

Kann man sich etwas vorstellen, was das gerechte Denken wirksamer begeistern, beschäftigen, okkupieren und somit schließlich intellektuell unschädlich machen könnte als die Möglichkeit, gegen den Krieg zu kämpfen?

Und kann man diese Befriedung geschickter erreichen als mit dem Errichten der Illusion, daß man den Krieg verhindert, wenn man die Installation von Waffen verhindert, die sowieso aufgestellt werden? Schwerlich kann man sich ein leichteres Mittel vorstellen, das menschliche Denken zu totalisieren: Denn je offenbarer es ist, daß die Waffen doch aufgestellt werden, desto schneller radikalisiert, f anatisiert und entfremdet sich schließlich völlig das Denken dessen, der sich restlos mit dem Ziel identifiziert hatte, der Aufstellung dieser Waffen zu wehren!

Und so befindet sich der Mensch, der mit dem edelsten Ziel auf seinen Weg geschickt wurde, schließlich dort, wo ihn die entpersönlichte Macht haben muß: in den Geleisen des totalitären Denkens, wo er nicht mehr sich selbst gehört, sich seines eigenen Verstandes und Gewissens zugunsten einer weiteren „unbewohnbaren Fiktion“ begibt. Wenn dieses Ziel erreicht ist, dann ist es Nebensache, wie diese Fiktion heißt, ob „Wohl der Menschheit“, „Sozialismus“ oder „Frieden“.

Gewiß: Vom Standpunkt der Interessenverteidigung der westlichen Welt aus ist es nicht eben günstig, wenn jemand sagt; „Lieber rot als tot“; nichtsdestoweniger kann man sich vom globalen Standpunkt der entpersönlichten Macht aus — als einer in ihrer Allgegenwart wahrlich teuflischen Versuchung — nichts Besseres wünschen:

Eine solche Losung ist nämlich ein untrügliches Zeichen dafür, daß derjenige, der sie ausruft, sein Menschsein als die Fähigkeit, persönlich für etwas einzustehen, was über ihn selbst hinausragt, und somit äußerstenfalls auch das Leben seinem Sinn zu opfern, aufgegeben hat.

Patocka hat einmal geschrieben, daß ein Leben, das nicht bereit ist, sich selbst für seinen Sinn zu opfern, es nicht wert ist, gelebt zu werden. Nur daß in der Welt eines solchen Lebens und solchen „Friedens“ (das heißt der „Herrschaft des Tages“) am leichtesten Kriege entstehen:

Denn in ihr fehlt der einzige und wirkliche — nämlich vom Mut zum größten Opfer verbürgte — sittliche Damm gegen sie. Der irrationalen „Interessensicherung“ sind Tür und Tor geöffnet.

Die Abwesenheit von Helden, die wissen, wofür sie sterben, ist der erste Schritt zu den Leichenhaufen derer, die nur noch wie Vieh geschlachtet wurden.

Mit anderen Worten: Die Losung „Lieber rot als tot“ irritiert mich nicht als Ausdruck der Kapitulation vor der Sowjetunion. Sie erschreckt mich als Ausdruck des Verzichts des westlichen Menschen auf den Sinn des Lebens und als sein Bekenntnis zur entpersönlichten Macht als solcher.

Diese Losung sagt nämlich in Wirklichkeit:..'Nichts lohnt das Opfer des Lebens. Nur daß ohne den Horizont des höchsten Opfers jedes Opfer seinen Sinn verliert. Oder: Es lohnt gar nichts mehr.

Nichts hat Sinn. Das ist die Philosophie der reinen Negation des Menschseins. Der sowjetischen Totalität hilft eine solche Philosophie nur politisch. Die westliche Totalität jedoch wird von ihr unmittelbar geschaffen.

Ich kann, mich — kurz gesagt — des Eindrucks nicht erwehren, daß die westliche Kultur viel mehr als von den SS-20-Raketen von sich selbst bedroht wird. Und als mir ein französischer Student mit aufrichtigem Glanz in den Augen sagte, daß der Gulag der Preis für die Ideale des Sozialismus und Solschenizyn nur ein persönlich verbitterter Mensch sei, da bemächtigte sich meiner eine tiefe Niedergeschlagenheit.

Ist Europa wirklich nicht fähig, aus der eigenen Geschichte zu lernen? Begreift dieser gute Knabe wirklich nicht, daß auch das einleuchtendste Vorhaben im Sinne des „Allgemeinwohls“ sich selbst in dem Moment der Unmenschlichkeit überführt, in dem es einen einzigen unfreiwilligen Tod fordert? Begreift er das wirklich nicht, bevor sie ihn in ein Arbeitslager irgendwo bei Toulouse sperren?

Hat der Newspeak der heutigen Welt schon so vollkommen die natürliche menschliche Sprache verdrängt, daß sich zwei Menschen nicht einmal mehr die einfachste Erfahrung gegenseitig mitteilen können?

Der Autor, „Charta 77“-Vertreter, ist tschechischer Essayist und Dramatiker. Der Beitrag zitiert auszugsweise einen Aufsatz in der Zeitschrift „kontinent - Ost-West-Forum“, Heft 3/1986.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung