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Linguisten schauen „dem Volk aufs Maul“
Auch eine simple Frage, wie etwa die nach der Uhrzeit, kann Voreingenommenheit hervorrufen, je nachdem, ob die Frage „Verzeihen Sie bitte, können Sie mir sagen, wie spätes ist?“, „Können S’ mir sąg’n, wie spät es is?“ oder „Wia spät is’n?“ lautet. Diese allein durch die Sprachweise entstehenden Eindrücke und Reaktionen lösen in allen gesellschaftlichen Bereichen mehr oder minder schwere Konflikte aus. Ihre Auswirkungen haben in der Sprachwissenschaft zu neuen Schwerpunkten der Sprachsoziologie geführt: zur Soziolinguistik, einem Versuch, sprachliche Eigenheiten auf soziale Bedingungen zurückzuführen, und zur Psychosoziologie, der Lehre von den sprachlichen Abweichungen auf Grund psychischer Störungen. Die
Linguisten schauen, wie Luther empfahl, „dem Volk aufs Maul“.
Die Sprache gehört zu den ersten und deutlichsten Zeichen sozialer Unterschiede. Es liegt daher nahe, daß sich die Sprachsoziologie mit Minderheitensprachen und mit dem Dialekt ebenso beschäftigt wie mit der Sprache der Juristen und Wissenschafter oder mit den Anredeformen der verschiedenen Sprachen.
Viele Länder haben Minderheitenprobleme und Minderheitensprachen. In Österreich sind es die Slowenen und Kroaten, in Frankreich die Breto- nen, in Belgien die Flamen und in Kanada die Franzosen. Die Aufzählung ließe sich beliebig fortsetzen, kein Land hat sein Minderheitenproblem bisher lösen können. Das mag auch daran liegen, daß der Konflikt um die Minderheitensprachen ein eminent politisches und ökonomisches Problem ist. In den Industriestaaten sind die Minderheiten meistens im bäuerlichen Bereich tätig und von der Industrie und den intellektuellen Berufen ausgeschlossen. Aber auch im privaten Bereich löst die Unterdrückung der Zweisprachigkeit erhebliche Probleme aus.
Entstanden ist die Sprachsoziologie, die mit Vorurteüsforschung verbunden sein soll, in den fünfziger Jahren in England durch Basil Bernstein. Durch die Frankfurter Schule hat sie nach 1968 auch in Österreich Fuß gefaßt, wo in der Folge erstmals auch der Dialekt untersucht wurde. Dabei hat man festgestellt, daß dialektsprechende Kinder von vornherein benachteiligt sind. In den Schulen wird Hochdeutsch gesprochen und verlangt, eine Sprache, die selbst von der gepflegten Umgangssprache weit entfernt ist.
Die Sprachpsychologie konnte die Wichtigkeit der Zuwendung in den ersten Lebensjahren des Kleinkindes auch für seine Sprachentwicklung untermauern. Mit Intelligenz hat Sprach- fähigkeit nur wenig zu tun, ausschlaggebend ist die direkte Zuwendung, durch die das Kind formulieren lernt
In einer Kombination von Sprachsoziologie und Sprachpsychologie hat Dr. Ruth Wodak am Institut für Sprachwissenschaft der Universität Wien Gesprächsstrategien in Gruppen untersucht, wo geschlechts- und schichtspezifische Sprachunter- schiede besonders stark zutagetreten. Frauen und sozial Benachteiligte sprechen aus Mangel an Selbstbewußtsein in Gruppen nicht nur weniger, sie haben auch Schwierigkeiten, ihre Gedanken zu formulieren. Diese Erkenntnisse versucht Dr. Wodak in Gruppentherapien anzuwenden, die zu einer Veränderung des Spraęh- und Sprechverhaltens führen sollen.
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