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Links, rechts — Nationalitäten

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Die Übernahme der aus Westeuropa stammenden parlamentarischen Einrichtungen warf in Österreich außer den überall vorhandenen auch noch besondere Probleme auf, die es allein schon ausreichend erklären, daß das schon während der Revolution von 1848 einmal erreichte Ziel einer „Konstitution des Vaterlandes“ noch einmal in weite Ferne gerückt wurde. Ganz allgemein erschienen parlamentarische Einrichtungen als Schutz gegen Fürsten- und Beamtenwillkür, insbesondere auf dem Gebiet der Finanzen und der Polizei, als Sicherung des persönlichen Freiheitsraumes, aber auch der wirtschaftlichen und sozialen Anliegen des Bürgertum^, das seine ökonomischen Leistungen endlich politisch honoriert sehen wollte, wünschenswert. Von Seiten des konservativen Adels und der konservativen Beamtenschaft wurde den liberalen Befürchtungen sachlich durchaus mit Recht entgegnet, daß in Mitteleuropa monarchische oder bürokratische Übergriffe kaum zu erwarten waren. In diesem Klima fanden 1873 — also vor hundert Jahren — die ersten direkten, wenngleich nicht dem Gleichheitsgrundsatz entsprechenden Wahlen statt.

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Die Übernahme der aus Westeuropa stammenden parlamentarischen Einrichtungen warf in Österreich außer den überall vorhandenen auch noch besondere Probleme auf, die es allein schon ausreichend erklären, daß das schon während der Revolution von 1848 einmal erreichte Ziel einer „Konstitution des Vaterlandes“ noch einmal in weite Ferne gerückt wurde. Ganz allgemein erschienen parlamentarische Einrichtungen als Schutz gegen Fürsten- und Beamtenwillkür, insbesondere auf dem Gebiet der Finanzen und der Polizei, als Sicherung des persönlichen Freiheitsraumes, aber auch der wirtschaftlichen und sozialen Anliegen des Bürgertum^, das seine ökonomischen Leistungen endlich politisch honoriert sehen wollte, wünschenswert. Von Seiten des konservativen Adels und der konservativen Beamtenschaft wurde den liberalen Befürchtungen sachlich durchaus mit Recht entgegnet, daß in Mitteleuropa monarchische oder bürokratische Übergriffe kaum zu erwarten waren. In diesem Klima fanden 1873 — also vor hundert Jahren — die ersten direkten, wenngleich nicht dem Gleichheitsgrundsatz entsprechenden Wahlen statt.

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In einer Dereus aurcnaus von Ideologien bestimmten Zeit wurden solche praktische Einwände überhört und die Überzeugung, die Französische Revolution hätte nicht niedergekämpft, sondern nur in ihrem ersten, vom englischen Konstitutionalismus bestimmten Stadium angehalten werden sollen, war weit verbreitet. Daß es derartige revolutionär-restaurative Stimmungen in Frankreich gab, mag nach der völligen Zerstörung der vorrevolutionären Gesellschaft erklärlich sein, zumal das großartige patriotische Pathos der Revolution besonders diejenigen ergriff, die ihre Greuel und den schrecklichen politischen Dilettantismus ihrer Wortführer nicht mehr erlebt hatten.

All das galt, wenn auch verspätet und in gewisser Hinsicht abgemildert, auch für die Donaumonarchie. Es kamen aber noch eigenartige Probleme hinzu, welche die Übernahme der westeuropäischen Formen eigentlich hätten ausschließen sollen. Das Zentralparlament war in zwei sprachlich und organisatorisch im wesentlichen einheitlichen Ländern entstanden —

die Donaumonarchie aber bestand aus etwa 20 Ländern, die vor ihr dagewesen waren und nach Jahrhunderten der Selbständigkeit immer noch autonom dastanden, bewohnt von mindestens zehn Völkerschaften aller europäischen und eines außereuropäischen Sprachstammes, bei denen sich dynastisch betontes Gesamtstaatsbewußtsein, Landespatriotismus und sprachnationales Lebensgefühl in der mannigfaltigsten Weise überschnitten und überdeckten. Nur vier Länder: Niederösterreich, Oberösterreich, ( Salzburg und Vorarlberg, von dem während der Verfassungskontroverse abgetretenen Venezien abgesehen, konnten als national einheitlich gelten, in allen anderen lebten zwei, drei oder mehr Sprachgemeinschaften, deren Verhältnis zueinander in jedem Land eine andere Farbe hatte. Daß in allen niohtungarischen Gebieten deutsch amtiert wurde und das deutsche Element, vor allem sein sudetenländischer Zweig, auf dem Gebiet der Verwaltung, aber auch der Wirtschaft und Kultur eine über seine Kopfzahl weit hinausgehende Bedeutung beanspruchte, war all-

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der zusammenwachsende Staat die Hausmacht des Kaisers im Heiligen Römischen Reich darstellte. Seit den Tagen Napoleons und der überall nach deutschem Vorbild aufkeimenden nationalen Romantik wurde dieser deutsche Vorrang zum Problem, nicht nur für die Nichtdeutschen. Als daher nach der Niederlage in dem aus außenpolitischen und finanziellen Gründen nicht durchgefochtenen italienischen Krieg von 1859 die nach 1848 über die Monarchie verhängte Erziehungsdiktatur nicht ohne ausländische Einwirkungen beendet werden mußte, erschien es auch den entschiedensten Anhängern der neuen Ideen unmöglich, den westeuropäischen Konstitutionalismus einfach zu übernehmen. Die vormärzlichen süddeutschen Verfassungen mit ihrem Censuswahlrecht und ihren teils geburtsständischen, teils berufsständischen Wahlkörpern schienen ein besseres Vorbild zu sein. Trotz der zentralistischen Grundstimmung der maßgebenden liberalen Gruppe konnte man aber, wenn das Verfassungsprojekt nicht sogleich scheitern sollte, die Länder nicht übersehen. Zunächst mußten die Länder, nachdem der Versuch, durch das Oktoberdiplom von 1860 eine privilegierte Gesamtreichsvertretung zu schaffen, an dem unnachgiebigen Widerstand der Ungarn gescheitert war, zunächst Landesstatute erhalten. Die so geschaffenen Landtage bestanden aus sogenannten Virilisten, also Mitgliedern von Amts wegen, vornehmlich katholische Bischöfe und Universitätsrektoren, dann Vertretern des Großgrundbesitzes, der Handelskammern, der Städte und Märkte und der Landgemeinden.

Aus den so gebildeten Landtagen sollte der „engere Reichsrat“ hervorgehen, der für das nichtungarische Gebiet oder, anders gesagt, für den Raum der theresianischen Staatsreform zuständig sein sollte, in dem es bereits seit langem ein gemeinsames Straf- und Zivilrecht und ein modernes Grenzzollwesen gab. Naturgemäß stellte sich die Frage, ob man dieses vielgestaltige Staatswesen nicht als Bundesstaat einrichten sollte, dem dann die ungarischen Länder mit erweiterter Rechtssphäre angegliedert werden konnten. Die wichtigste Errungenschaft der Gegenrevolution von 1849, der Gesamtstaat, hätte so gerettet werden können. Aber Ungarn gab schon damals zu erkennen, daß man dort von einer solchen Regelung nichts hören wollte. Der heftige Widerstand der in Bildung begriffenen tschechischen und polnischen Nationalpartei gegen jeden Zentralismus wirkte auf das Komitee hoher deutschsprachiger Beamter, das mit der Ausarbeitung der Verfassung beschäftigt war, vollends im Sinne des Zentralismus, so daß sich weder der romantische Tiroler Perthaler, der einfach sämtliche Landtage, in zwei Häuser geteilt, zum Zentralparlament vereinigen wollte, durchzusetzen vermochte noch der steiri-sche Autonomist Freiherr von Kalch-berg, der bedauerte, daß kein Bundesrat geschaffen wurde. Das

„Februarpatent“ vom 26. Februar 1861. Es sah ein Zweikammerparlament vor, bestehend aus dem Herrenhaus (die Bezeichnung wurde der preußischen Verfassung entnommen) und dem Abgeordnetenhaus. In das Herrenhaus kamen die großjährigen Mitglieder bestimmter Adelshäuser als erbliche und vom Kaiser auf Lebenszeit ernannte verdiente Männer als lebenslängliche Mitglieder. Das Abgeordnetenhaus war von den Landtagen innerhalb der Kurien zu wählen. Die Vertreter der nichtungarischen Länder bildeten den engeren Reichsrat von 223, tatsächlich 203 Mitgliedern, von denen auf Böhmen 54 (nach der Einführung der Direktwahl 93), auf Dalmatien 5 (9), Galizien 38 (63), Niederösterreich 18 (37), Oberösterreich 10 (17), Salzburg 3 (5), Steiermark 13 (23), Kärnten 5 (9), Krain 6 (10), Bukowina 5 (9), Mähren 22 (36), Schlesien 6 (10), Tirol 10 (18), Vorarlberg 2 (3), Istrien, Görz, Triest je 2 (je 4) kamen. Die 20 Venezianer waren Irredentisten und erschienen nie. Für Wehrangelegenheiten und Reichsbudget war der weitere Reichsrat bestimmt, der zustande

kommen sollte, indem 85 Ungarn, 26 Siebenbürger und neun Kroaten hinzutraten. Aber nur die Siebenbürger sind vorübergehend erschienen. Nach Wählerkurien aufgeteilt gab es 58 (85) Großgrundbesitzer, 58 (116) Vertreter der Städte, 9 (21) der Handels- und Gewerbekammern und 78 (131) der Landgemeinden, in denen indirekt durch Wahlmänner gewählt wurde. Dieses Parlament besaß das Recht, das Budget zu bewilligen und aus dem Plenum kommende Gesetzesanträge neben den Regierungsvorlagen zu beschließen, doch waren die Abgeordneten nicht immun und die Forderung, nach westeuropäischem Vorbild die Ministerverantwortlichkeit einzuführen, wurde von dem als „liberal“ geltenden, in Wahrheit aber nur antiklerikalen Ministerpräsidenten Freiherr von Schmerling scharf abgelehnt. Noch weit mehr bedeutete aber die Tatsache, daß die Befugnisse der Länder auf das stärkste beschnitten waren und sich eigentlich auf Gemeindeangelegenheiten und Landes-finanzen beschränkten. Das bedeutete jedoch, daß die Staatsregierung und der Reichsrat sich mit dem Nationalitätenproblem befassen mußten, zu dessen Lösung die Länder weit besser geeignet waren, ganz abgesehen davon, daß die weit überwiegend deutschsprachige „Verfassungspartei“ sich von vornherein entschlossen zeigte, ihre Herrschaft zur Dauereinrichtung zu machen.

Es blieb eine Tatsache, daß das von so vielen ersehnte Parlament nicht einmal innerhalb der Mehrheitspartei eine einheitliche Politik finden konnte und nur Gesetzgebungsmaschine einer Regierung war, die kaum weniger autoritär auftrat als vordem der von den Liberalen so heftig angegriffene

Neuabsolutismus. Vor allem aber: der Reichsrat war als zusätzlicher Einigungsfaktor gedacht gewesen, er sollte Länder und soziale Gruppen zu gemeinsamer Arbeit am Ganzen vereinigen. Was man aber sah, war ein Hexenkessel der Zwietracht, ein Kampfplatz hadernder Nationalitäten, eine Abwertung des Väterglaubens und der Vätersitte und eine mit den Jahren immer offenkundiger werdende Geldherrschaft. Am allerschwersten aber wog es wohl, daß dieser erste Reichsrat die Landesverteidigung so vernachlässigte, daß das weltgeschichtliche Unglück von 1866 die liberale Partei belastet, nicht, wie noch Friedjung mit viel Gelehrsamkeit, aber wenig Ehrlichkeit behauptete, das konservative Kabinett Belcredi, das 1865 die Verfassung sistierte, weil es versuchte, westlich der Leitha den nationalen Ausgleich herbeizuführen und den Widerstand Ungarns gegen den Gesamtstaat zu brechen. Es gelang Belcredi nicht, bei den in ihre Sonderprobleme versponnenen Nationalitätenpolitikern die nötige Unterstützung zu gewinnen. Deshalb und nicht weil die Verfassung sistiert worden war, mußte der Kaiser die Ausgleichsverhandlungen mit Ungarn allein, ohne Beteiligung einer österreichischen Vertretung führen. Belcredi trat im Februar 1867 zurück, der engere Reichsrat von 1861 trat wieder zusammen und eine Art Koalitionskabinett mit starkem deutschliberalen Übergewicht veranstaltete Neuwahlen, die eine trag-

fähige, aber bereits angeschlagene liberale Mehrheit (118 gegen 77 Föderalisten und 11 Klerikale) ergaben. Die unangefochtene Machtausübung durch die Verfassungspartei war nur möglich, weil wieder 17 böhmische Tschechen dem Abgeordnetenhaus fernblieben. Dieses Parlament trat dem Ausgleich der Krone mit Ungarn bei und verabschiedete die Staatsgrundgesetze vom Dezember 1867, die zum großen Teil heute noch in Kraft sind. Soweit sie politische Kompetenzen betrafen, waren diese Gesetze genauer gefaßt als das Februarpatent. Sie enthalten alle bürgerlichen Freiheitsrechte und erkennen dem Reichsrat das Budgetbewilligungsrecht und die Rekrutenbewilligung ausdrücklich zu.

1871 versuchte das Kabinett Hohenwart durch Verhandlungen mit den Tschechen und Polen von der Verfassung wegzukommen und den Staat durch Verträge zwischen Krone und Ländern neu zu gründen. Dieses an sich durchaus geschichts-konforme Projekt scheiterte an Übertreibungen seiner Verfechter, vor allem aber an dem drohenden Einspruch der Ungarn. Die an die Macht zurückkehrenden Liberalen steuerten die Direktwahl nunmehr ganz offen an, ohne sich durch den erbitterten Widerstand der konservativen Föderalisten stören zu lassen. Trotz aller Massenversammlungen und Petitionen nicht nur in den slawischen Ländern, auch in Tirol und Steiermark, trotz der massiven Wahlbeeinflussung bei der böhmischen Landtagswahl von 1872 — tschechische Genossenschaften, die „Chabrus“, kauften Landtafelgüter für ihre Partei, der „Credit Foncier“ leistete hohe Wahlzuwendungen an die Verfassungspartei

und der Statthalter FML Baron Koller bedrohte konservative Wähler mit Militäreinquartierung! — wurde das Gesetz über die direkte Wahl von dem Justizminister Baron Lasser, einem salzburgischen Ge-werken, ausgearbeitet, am 15. Februar 1873 eingereicht und nach erbitterten Redeschlachten am 6. März vom Abgeordnetenhaus angenommen. Die liberale Mehrheit hatte dabei die Opposition derart terrorisiert, daß die föderalistischen Abgeordneten bei der Schlußabstimmung den Saal verließen und nur zwei Beobachter zurückließen. Das Gesetz wurde demnach mit 120 zu zwei Stimmen angenommen. Das Herrenhaus, das schon anläßlich der Kirchengesetze von 1868 eine verläßliche Mehrheit für die Verfassungspartei besaß, nahm das Wahlgesetz am 27. März mit 88 zu 16 Stimmen, also bei sehr schwacher Beteiligung, an. Kaiser Franz Joseph sanktionierte es am 2. April. Es erhöhte die Anzahl der Abgeordneten auf 353, die von denselben Kurien zu wählen waren, wie sie in den Landtagen bestanden. Sonst erfuhr die Verfassung keine Änderung.

So ging 1873 der letzte von den Ländern gewählte Reichsrat auseinander. Die Neuwahlen, die nicht an einem Tage stattfanden, zeigten die siegreiche Verfassungspartei bereits im Abstieg. Die noch schwache Demokratische Partei in Wien, für die der junge Dr. Lueger agitierte, deutete die erste Möglichkeit einer lin-

ken Opposition an, während nur das Wahlsystem die liberale Oberschichtenpartei vor der urwüchsigen Erbitterung katholisch-volkstümlicher Agitation schützte. Die wirtschaftliche Katastrophe des „großen Krachs“ zeigte überdies grell die Unsauberkeit des so anspruchsvollen Systems. All das war aber noch weniger gefährlich als der Umstand, daß die Nationalitätenfrage, die in den Ländern zweifellos rechtzeitig gelöst worden wäre, von nun an bis fast zum Ende der Monarchie die Zentralregierung und das Zentralparlament mit aussichtslosen Auseinandersetzungen belastete.

Das Wahlergebnis zeigte bereits jene parteipolitische Zerklüftung, die jede wirklich parlamentarische Regierung unmöglich machte. Von links nach rechts gehörten dem Abgeordnetenhaus an: fünf Wiener Demokraten, 57 Abgeordnete des Fortschrittsklubs, 88 des Klubs der Linken, 54 des verfassungstreuen Großgrundbesitzes (diese 199 bildeten die Verfassungspartei), dazu drei liberale Slowenen und fallweise 14 Ruthenen. Die Rechte bestand aus dem Hohenwartklub (40 Deutschkonservative, Slowenen, Kroaten und mährisch-schlesische Tschechen) und 49 Polen. 33 böhmische Tschechen begingen abermals die Torheit, mit Berufung auf das mißachtete böhmische Staatsrecht dem Reichsrat fernzubleiben. Zehn Deputierte standen außerhalb jeder Parteiengruppierung. Schon sechs Jahre nach der Einführung der direkten Wahl endete die deutschliberale Vorherrschaft, deren einziger dauernder Erfolg die Durchsetzung einer für das damalige Österreich, auch abgesehen von der nationalen Frage, unpassenden Verfassungs-

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