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Liszts Wiederkehr

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„Ein mittelmäßiger, uninteressanter Komponist! Ein Musiker, der seine blassen Einfälle durch bombastische Instrumentation zu tarnen versuchte!“ Mit dem Brustton voller Uberzeugung urteilten so noch Anfang der sechziger Jahre selbst Gymnasiallehrer, wenn im Musikunterricht die Rede auf Franz Liszt kam.

Liszt — was fiel einem damals, Anno sechzig, schon zu diesem merkwürdig glanzlos gewordenen Namen ein, außer daß ein Thema seiner symphonischen Dichtung „Les Preludes“ während der Nazi-Herrschaft im Rundfunk als Tonsignet für „Frontmeldungen“ verwendet wurde. Oder daß seine 2. Ungarische Rhapsodie selbst von Kurorchestern als Schlager bis zur Peinlichkeit verschmiert gespielt wurde. Nur wenige Komponisten, die man zu Lebzeiten als große Neuerer gefeiert hatte, wurden nach ihrem Tod ähnlich geringschätzig behandelt und ihr Werk derart pauschal als Artistenklamotte verurteilt.

Liszt—das war für das bürgerliche Musikpublikum nach dem Zweiten Weltkrieg ein Modevirtuose und bestenfalls ein Klavierdämon, der mit seinen Tastenkünsten Frauenherzen betörte; das war der Steigbügelhalter Richard Wagners und der kulturpolitische Vorkämpfer der „neudeutschen Schule“, einer, der sein Ungarntum im richtigen Moment genützt hatte, um zum vergötterten Nationalhelden aufzusteigen. Verständlich, daß in diesem Liszt-Bild voll kunstvoll aufgestapelter Klischees, die letztlich nur ein Beweis für die zwanghaft neurotische Einstellung gegenüber Kunst und Künstlern des 19. Jahrhunderts waren, Liszts schöpferische Originalität, sein Mut zu kühnen Neuerungen und seine Verdienste um die Musik seiner Zeit einfach ignoriert wurden.

Heuer gedenkt die Musikwelt des 175. Geburtstags (22. Oktober 1811) und des 100. Todestags (31. Juli 1886) des Komponisten. Und da muß man im Zug einer Liszt-Bilanz feststellen, daß all die vorfabrizierten abschätzigen (Fehl-) Urteile schrittweise ausgemerzt wurden und noch werden. Denn wenn das vergangene Jahrzehnt auch keine fulminante Liszt-Re-naissance beschert hat, so förderte es doch die Rehabilitierung der ungewöhnlichen Persönlichkeit — das beste Beispiel ist Ernst Burgers umfangreicher neuer Dokumentationsband im Münchner List-Verlag, für den Alfred Brendel das Vorwort schrieb — und vieler seiner Werke. Eine Rehabilitierung, die paradoxerweise nicht von den großen Dirigentenstars und nur fallweise von gefeierten Pianisten eingeleitet wurde, sondern aus dem Kreis der Enklave neuer Musik.

Da wurde Liszt plötzlich als Schrittmacher auf den Wegen in unsere Zeit entdeckt, sein Schaffen neu begriffen und neu gedeutet. Avantgardedirigenten wie etwa Pierre Boulez, der Liszts „Legende von der heiligen Elisabeth“ in New York vorstellte, wagten einen ersten Vorstoß; Komponisten wie György Ligeti entdeckten plötzlich wieder Liszts faszinierende Ausdrucksgebärde und Farbenkunst, die alles andere war als Salonvirtuosentum — „Genie des Vortrags“ hatte ihn Robert Schumann genannt —; und Pianisten wie Alfred Brendel sprachen von den Zusammenhängen zwischen Werkkonzeption und Vortragsstil, die durch Liszts Technik und Ästhetik eine völlig neue Bedeutung zugewiesen bekommen hatten. i,

Hört man heute unvoreingenommen Liszts ausladende symphonische Dichtungen wie „Hamlet“, die „Dante“- und „Faust“-Symphonien, „Tasso“, „Hunga-ria“, „Die Hunnenschlacht“, „Les Preludes“, seine Graner Festmesse, die Oratorien „Hl. Elisabeth“ und „Christus“, vor allem aber die späten Klavierwerke und die Lieder, entdeckt man hinter der kunstvoll polierten, schimmernden Fassade der Werke ein Weltbild von kosmopolitischer Offenheit und Größe, von humanistischer Konzeption, voll tiefgehender psychologischer Analytik.

Neben manchen modischen Gesten — bei welchem Komponisten gibt es das schließlich nicht: den Zeitstil — wird da der Mut spürbar, die klassisch-romantische Symphonieform im Zeichen programmatischer Konzepte zu erneuern und im thematisch-motivischen Konstruktionssystem neue harmonische Beziehungen und Klangfarben zu schaffen—eine Entwicklung, die die revolutionären jungen Russen, das ,JIäuf-lein der Fünf, ab 187ft- enau spürten, als sie sich an Liszt hielten. Borodin etwa besuchte Liszt 1877 in Weimar und widmete ihm seine „Steppenskizzen“; Liszt schätzte den aggressiven Modest Mussorgsky und den kühnen Ko-loristen Nikolai Rimsky-Korsa-kow. Und in seinen letzten Liedern näherte er sich sogar Claude Debussys impressionistischem Prinzip.

Das mag mit ein Grund sein, daß Liszts Schaffen später soviele Mißverständnisse ausgelöst hat. Der Erfolgreiche legte sich nicht auf seinen Erfolg fest. Der Uber-raschungskünstler suchte das Uberraschende, suchte Erneuerung. Das legte man ihm als artistischen Mutwillen aus. Denn Europa hatte zuerst nur das klavier-* spielende Wunderkind geliebt, das da 1811 in Raiding im Burgenland geboren worden war; es hatte dann den etwas anrüchigen Tour-jieeartisten vergöttert, der zwischen Budapest, Paris, Wien, Romund Weimar von den schönsten Frauen der Gesellschaft belagert war und immer am Rand des Skandals lebte; ind es hatte schließlich den zielstrebigen Kopf der „Neudeutschen“ in Weimar bewundert, der zum führenden Orchestererzieher und Vertreter einer neuen Musikästhetik wurde; als er aber in Rom die niederen Weihen empfing, verstand die Gesellschaft das nur als eine neue Attitüde des Genies.

Was man nicht erkannte, war die tiefe Vergeistigung, die spekulative Einstellung Liszts in seinem späten Schaffen, in dem er über Richard Wagner hinauswies, wagte, das Tonartenprinzip da und dort in Frage zu stellen und thematische Arbeit aus kleinsten Keimzellen - Ton, Schritt, Farbe — zu entwickeln. Ein Weg, der erst im 20. Jahrhundert mit aller Konequena- weiter-gedacht werdensollte.

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