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Literatur als Gärstoff

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Es kann keinen Zweifel geben, die atemberaubenden Veränderungen im Osten werden auch die traditionelle Mitteleuropa-Optik von Grund auf verändern. Vielerorts ist sogar die Meinung zu hören, daß die so ausgeprägte mitteleuropäische Geistigkeit nun vom Europa-Gedanken einfach überrollt wird, daß durch den unaufhaltsamen wirtschaftlichen Zusammenschluß auch das entsprechende Identitätsbewußtsein des Mitteleuropäers unweigerlich verloren gehen muß.

Solche Vermutungen regen auch den Literaturbetrachter an, Stellung zu nehmen, hat doch eine sich immer wieder dezidiert zu Mitteleuropa bekennende Literatur letztendlich auch als wesentlicher Gärungsstoff für eine breite Bewußtseinsbildung mitgewirkt. Dieses Mitteleuropa-Bekenntnis mag wohl unter den gegebenen Umständen sehr utopisch geklungen haben. So ist es für György Konrad ein Traum der Intellektuellen, der sich über die Blockgrenzen hinweg spannt, es ist der Sinn für die Vielfalt, die Philosophie einer paradoxen Mitte, einer mehrdimensionalen Gesellschaft, vor allem das Verständnis für die Individualität. Aber es gehört zum Wesen der Utopien, daß gerade sie den Menschen zu Taten, zur Verwirklichung, führen. In diesem Sinne haben Autoren wie Czeslaw Milosz, Pavel Kohout, Bohumil Hrabal, Ludvik Vaculik, Danilo KiS, Ivan Klima, Anton Hykisch, Josef Skvorecky und so manche andere Schriftsteller den Mitteleuropa-Begriff als Waffe benutzt. Man fühlt sich zurückerinnert an den Schlußsatz von Miroslav Krlezas Roman „Bankett in Blitwien“, in dem die traditionelle Funktion der Schriftsteller jener vielen kleinen Völker dieses Raumes immer wieder als Gewissen ihrer Nationen im Kampf gegen übermächtige Kräfte gesehen wird. Ihre einzige Waffe bildete dabei eine Schachtel voll Bleibuchstaben. Das ist nicht viel, meint Krleza, aber es bleibt doch das einzige, was der Mensch bis heute als letztes Mittel zur Verteidigung seiner Menschenwürde erfunden hat.

Aus österreichischer Sicht scheint es sehr wichtig, daß eine solche Vorstellung von Mitteleuropa keinesfalls mit jener in der österreichischen Literatur so beliebten rückwärts gewandten Utopie in Einklang gebracht werden dürfte. Im Gegenteil, Milan Kundera erklärt in seinem Essay „Die Tragödie Mitteleuropas“:„Das österreichische Kaiserreich hatte die große Chance, Mitteleuropa zu einem starken geeinten Staat zu machen. Aber die Österreicher waren leider selbst hin- und hergerissen zwischen einem arroganten pangermanischen Nationalismus und ihrer eigenen mitteleuropäischen Mission. Es gelang ihnen nicht, eine Föderation gleichberechtigter Nationen zu bilden...“

Josef Roths Bezirkshauptmann Franz Trotta von Sipolje, der seine Wurzeln aufgegeben und seine Abstammung zugunsten einer problematischen „übernationalen“ Idee vergessen hatte, konnte niemals ein Vorbild für die Literaturen dieser Völker darstellen.

In diesem Zusammenhang ist es ein wahrhaft symbolisches Zeichen, wenn Ingeborg Bachmann in ihrer Erzählung „Drei Wege zum See“ ihren Vater mit dem Bezirkshauptmann Trotta gleichsetzt und sich dafür jenen Trottas verwandt fühlt, die ihre Wurzeln nicht verloren haben.

So hat mit dieser E rzählung nicht nur eine Dichterin, sondern auch die österreichische Literatur insgesamt nach einer Phase des Auslotens eines barocken Erbes und des damit verbundenen, die übrigen Völker dominierenden Alleinanspruches ihre wahre österreichische Identität in der aufrichtigen, schicksalshaft empfundenen Gemeinschaft mit diesen Völkern gefunden. Sie wird nun auch von ihnen als mitteleuropäische Literatur in deutscher Sprache verstanden.

Mit den gegenwärtigen Ereignissen geht wohl eine Phase der mitteleuropäischen Literatur zu Ende oder, besser gesagt, eine ihrer - im Sinne von Norbert Elias verstandenen - Figurationen, also jener besonders ausgeprägten Bewegungszusammenhänge. Eine solche Fi-guration war bereits in der für Mitteleuropa charakteristischen Verschmelzung von Renaissance und Barock gegeben, mit der sich dieser Raum sowohl gegenüber dem Norden als auch dem Westen abgrenzte.

Eine weitere Figuration wäre durch den gemeinsamen Prozeß der nationalen Identitätsfindung dieser Völker aus dem Geist der Aufklärung und der Romantik vorgezeichnet, durch den sich gerade jene höchstmögliche Vielfalt auf kleinst-möglichen Raum herausbildete. Dann wäre noch die Figuration der Jahrhundertwende zu erwähnen, in der dieses Mitteleuropa nach den Worten des ungarischen Philosophen Läszlo Mätrai schon nicht mehr eine Summe der Kulturen aller seiner Völker war, aber auch noch nicht eine von der Dominanz einer Kultur bestimmte Ganzheit darstellte, sondern irgendwo dazwischen lag. Dies war aber immerhin die höchste Stufe der geistigen Gemeinsamkeit.

Ist nun mit dieser Figuration die Literaturgeschichte Mitteleuropas beendet?

Vaclav Havel, einer dieser mitteleuropäischen Schriftsteller, äußerte sich zur Zeit der erbittertsten Auseinandersetzungen gegenüber einer englischen Journalistin wörtlich:

„Die Krise unserer Welt bezieht sich nicht nur auf den Totalitaris-mus sowjetischen Typs. Ihre Wurzeln sind tiefer... denn auf der anderen Seite droht uns die Gefahr einer Eschatologie des Unpersonel -len, des Strebens nach unpersönlicher Macht und der Herrschaft gigantischer Maschinen oder Monstren, die der menschlichen Kontrolle entgleiten, so daß auch auf dieser Seite die Welt ihre menschliche Dimension verliert.“

So wird wohl aus einer tausendjährigen Tradition des Identitätsbewußtseins, der Bejahung von Evolution und Legalität aus der geschichtlichen Erfahrung - bei aller begründeter Skepsis - auch weiterhin eine mitteleuropäische Literatur ihre Inspirationen, Themen und Ausdrucksweiseh finden -was wir auch hoffen wollen.

Der Autor ist Professor für vergleichende Literaturwissenschaft in Innsbruck.

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