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Literatur als Leben - Leben als Literatur

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Literatur und Leben verhalten sich so zu einander wie Henne und Ei. Das eine geht aus dem andern hervor, und was zuallererst da gewesen, wird nie je ergründet werden.

Aber die Literatur - so höre ich einwenden - ist doch logischerweise erst nach dem Leben gekommen, als ein Reflex auf eben dieses Leben.

Gewiß, wenn man den Begriff des Lebens rein biologisch faßt. Aber Leben alsein definierbarer Wert ist doch wohl erst entstanden als Folge der Literatur. Kraß ausgedrück: Ohne den Vorgang der Literatur war das Leben nicht lebenswert - oder sagen wir so: das Leben des Menschen war nicht in höherer Weise lebenswert als das eines Elephan-ten oder einer Amöbe, es hatte grundsätzlich keine andere Qualität, denn es hatte kein Instrument von Gedächtnis und Planung.

Erst die Literatur hat das Leben aus seiner bloßen Gegenwärtigkeit erlöst; oder wenn man will: dazu verdammt, ein Kontinuum zu sein, in dem die jeweilige Gegenwart nichts andres mehr ist als der Umschlagplatz der jeweils absolvierten Vergangenheit in die jeweils zu absolvierende Zukunft.

Von diesem Sachverhalt war der jetzt - genauer: am 30. Oktober 1980 - fünfzigjährige György Sebestyen schon als Knabe fasziniert. Geschriebenes zu lesen war ihm, schon ehe er wußte warum, das Mittel, überhaupt und eigentlich zu leben, nämlich einmal, gedachtes Kontinuum jeweils gegenwärtig zu bewältigen, und zum andern, das individuelle Ende seines individuellen Konti-nuums zu akzeptieren. Der Umgang mit Literatur hat ihm das Leben geschenkt und damit, eo ipso, die Hoffnung, daß der Tod nicht etwas absolut Sinnloses sei.

Und diesen jahrzehntelangen Umgang dokumentiert György Sebestyen nun: in einer gut 400 Seiten starken Sammlung seiner verbalen Reflexe auf Literatur. Das sind Aufsätze, Vorträge, Kritiken, Glossen: ihrer Natur nach sachbezogen, und oft - ein Beispiel für viele: Ernst Jünger - streng sachlich, aber doch eigentlich nie bloß der Sache wegen geschrieben; sondern geschrieben zuerst und zuletzt aus dem tiefen Bedürfnis heraus, für sich selber den Halt im Leben, in der Erscheinungen Flucht zu finden, den jene anderen schreibend gefunden.

Als schreibender Leser fungiert György Sebestyen hier als exemplarischer Leser: indem er in sechzig, siebzig Beispielen (von der Antike bis zu den jetzt Jungen) dartut, daß Literatur eben nicht nur Genuß und Belehrung bietet, sondern auch Lebenshilfe leistet, Lebenshilfe in dem eingangs kurz angedeuteten Sinne.

Insofern freilich stimmt der Titel des Buches nicht ganz: nicht „Studien zur Literatur" werden ausgebreitet, sondern deren subjektive Resultate werden angeboten; und zwar werden sie angeboten nicht partout zur Identifikation, sondern zur eben so subjektiven Nachahmung.

Nicht die Literatur, sondern das Lesen will Sebestyen lehren. Und wohl deshalb hat er auch solche Beispiele aufgenommen, die bloß Zeugnisse einer momentanen intellektuellen Stimmung, einer momentanen seelischen Verfassung waren. Denn alles, was man gelebt hat, gilt weiter.

Nun, daß dieser Sammelband just zum 50. Geburtstag des Autors zurechtkommt, mag purer Zufall sein. Immerhin aber ist fünfzig in unserem

Leben schon eine magische Zahl geworden; von da an will man nicht mehr sammeln, sondern ernten: man veranstaltet da für sich selber so etwas wie eine ganz individuelle „neolithische Revolution" - der Jäger wird seßhaft, beginnt ein qualitativ neues Leben. Was logischerweise heißt, Bilanz zu legen über das alte.

Nicht, daß man verurteilte, was gewesen und was geschehen. Aber man: spürt auf einmal den Druck der Zeit, man zieht die Konsequenzen: man räumt auf, um Platz zu haben. So jedenfalls darf man grad diesen Sammelband sehen, weil sein Autor ihn abschließt mit „Zettelwirtschaft": vorlängst notierten, aber nie weiter geformten Einfällen.

Tabula rasa wurde gemacht: um neuer Freiheit willen. Einkehr wurde gehalten bei sich selber: um zu sehen, wie's weitergeht.

Daß es weitergeht - also, das wollen wir hoffen! Und hoffen es um so dringlicher, als just das, was Sebestyen ständig traktiert, immer mehr außer Obacht gerät: die eben so simple wie schwer zu fassende Tatsache, daß die Wirklichkeit weder Physik noch Metaphysik, sondern beides zusammen ist: Geist und Fleisch nicht neben und gegen einander, sondern einander bedingend, und endlich aufgehoben - entkräftet; bewahrt; erhöht - in der Form.

Form aber - das ist Sebestyens ewiges Credo - läßt sich nicht machen, sie läßt sich nur schauen: Gestalt ist realisierte, ja, sagen wir's ruhig, materialisierte Vision. Erst die Sache, von der man ein Bild hat, kann man berechnen - ein Phänomen, en passant bemerkt, das in diesem Jahrhundert von nahezu allen großen Naturwissenschaftern als wahr, als selber erlebt bezeugt wird.

Die Welt, so etwa sieht's Sebestyen, wird erfahren (und damit auch beherrschbar) nicht in den Gedanken, die wir uns über sie machen, sondern so viel (oder auch so wenig), als wir sie sinnlich wahrnehmen - was eine Absage nicht an das Denken, wohl aber an die Abstraktionen bedeutet, oder genauer: an jene Abstraktionen, die an die Stelle der Anschauung sich gedrängt haben.

Selbstverständlich wird so auch der Naturalismus als eine Abstraktion entlarvt. Er zwingt die Erscheinungen menschlichen Lebens in ein System und nennt dieses Resultat aus Zufall und Willkür: ein Bild vom Menschen - während von einem Bild, wie unser Autor es meint und begreift, füglich erst gesprochen werden darf, wenn eine Sache zwar diese Sache selbst ist und zugleich auch mehr als diese Sache; wenn der Gegenstand - um die gedankenlose Phrase einmal sinnvoll zu gebrauchen -etwas bedeutet, wenn also das Einzelne auf etwas Allgemeines hindeutet. Wenn in einer bestimmten literarischen Figur das menschliche Schicksal schlechthin sich offenbart.

Diese und ähnliche Erwägungen trägt Sebestyen nun aber nicht in steifem Ernst und gestelzter Feierlichkeit vor, sondern mit einmal fröhlichem, dann wieder melancholischem Pathos, ständig durchwirkt von jenen kecken Formulierungen, die aus seinem Ungarisch in sein Deutsch herüberchangieren. Also wohl: „Studien zur Literatur", aber betrieben als munterer Dialog mit derselben.

STUDIEN ZUR LITERATUR. Von György Sebestyen. Edition Roetzer, Eisenstadt 1980,416 Seiten. öS 380,-.

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