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Literatur ist Verwandlung von Tatbeständen

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natürlich habe ich weder meine Kindheit nur im Freien verbracht, noch hat es zu Hause nur Jagdliteratur und Tierärztehandbücher gegeben — trotzdem habe ich, so wichtig mir auch einige Bücher geworden und geblieben sind, Literatur nie richtig zu lesen erlernt, ja eine Abneigung gegen das Lesen behalten, so gern ich in kunstgeschichtlichen Büchern beliebiger Epochen blättere: bisweilen raffe ich mich auf, in Zwanzigseitenproben festzustellen, wie die großen Stilisten die Wirklichkeit zu etwas Geschriebenem machen (um dann ungeduldig zu meinen Arbeiten zurückzukehren), aber die psychologische Motivierung von Handlungen, die Darstellung von Charakteren, Milieuschilderungen, Atmosphärisches, überhaupt jede Anschaulichkeit, sind mir langweilig, wahrscheinlich, weil ich von Romanen die Erfüllung der Bedingungen erwarte, die ich in meinen Geschichten zu erfüllen suche (alles, was in der Geschichte passiert, muß sich auf die Einleitung, die Angabe einer Aufgabe, zurückführen lassen), und weil mir das Verständnis für die große Komposition fehlt (wie ich auch, wenn es keine Detailreproduktionen gäbe, vor den großen Kompositionen der Malerei bedauern würde, daß sie nicht in mehrere Bilder auseinandergeschnitten worden sind); Gedankenwiederholungen und meines Erachtens fehlende Raffungen irritieren mich so sehr, daß ich nicm weiterlesen kann; die dramatische Literatur ist mir auf Grund der meist strengeren Konzeption zugänglicher (ich könnte mir eher ein Theaterstück als einen Roman zu schreiben vorstellen; ich habe mir als Kind Rituale und Streitgespräche, aber keine Geschichten ausgedacht).

die Autoren, denen ich dankbar verpflichtet bin, sind vor allem die, vor denen mir in der Schulzeit aufgegangen ist, daß „Literatur” vor allem die Verwandlung von Tatbeständen in eine unwiederholbare Sprache ist; es hat mir damals Vergnügen bereitet, mich von der Konstanz ihrer Satzkonstruktionen und der Wiederkehr ihrer Lieblingsredewendungen auf beliebig aufgeschlagenen Seiten zu überzeugen (so konnte ich den „Kohlhaas” stückweise auswendig, auch Stifter-Passagen, ohne die einzelnen Geschichten — außer es war schulische Pflicht — zu Ende gelesen zu haben; und nicht viel anders lese ich seit fünfzehn Jahren den „Mann ohne Eigenschaften”, das heißt, einige Kapitel immer wieder, ohne bis heute mehr als etwa die

Hälfte des Buches zu kennen, und das ganz durcheinander); vor allem aber muß ich Livius und Tacitus nennen, da mich, wie ich heute glaube, die Bewunderung für die lateinischen Satzperioden bzw. Satzverkürzungen dazu gebracht hat, auch gegen die Schulgrammatik ähnliches im Deutschen zu versuchen (das, wovon diese Autoren berichten, war mir wie wohl allen Schülern uninteressant, aber das Vergnügen, aus dem Lateinischen ins Deutsche zu übersetzen, hat sich in meinen Methoden zu schreiben erhalten; vermutlich sind auch die riesigen Satzgefüge des Livius schuld, daß ich vor jeder neuen Geschichte die heimliche Überzeugung, eine Geschichte — ich habe einige solche geschrieben, an die eineinhalb Seiten lang — wäre dann gut konzipiert und somit auch inhaltlich auf das Wesentliche reduziert, wenn sie eine Geschichte in einem Satz wäre, wenn wenigstens die Einheit von fünf Sätzen nicht überschritten würde, niederkämpfen muß); vielleicht müßte ich auch den so überzeugenden „drei Einheiten” der griechischen Tragödie meinen Dank abstatten; ich widme meine Geschichten meist nur einem Phänomen, das meist nur von einer Person erlebt wird und ort- und zeitgebunden ist.

zu einer spät entdeckten Liebe ist mir Adornos „Ästhetische Theorie” geworden, eine heitere Anstrengung, und, soweit ich für wissenschaftliche Literatur Interesse aufbringen kann, ist das die Sprachphilosophie und moderne Linguistik (der strukturellen Grammatik verdanke ich einige Anregungen; mich mit dem „Strukturalismus als Methode” zu beschäftigen, verleidet mir der Fachjargon); Carnap oder Wittgenstein würde ich zwar gern näher kennenlernen, aber doch wieder nicht so gern, daß ich mich aufraffen würde, meine bescheidenen Mathematikkenntnisse zu erweitern.

und danbkar bin ich — wie in bezug auf meine Prosa Max Ernst und Bunuel — in bezug auf meine Lyrik neben den Bildern Magrittes vor allem Gottfried Benns „Problemen der Lyrik”.

auf eine Insel würde ich mir außer

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